Arnon Grunberg
WeltWoche,
2005-05-04
2005-05-04, WeltWoche

Beziehungskünstler


Julian Schutt

Gut übers Leben zu schreiben, heisst, das Unangenehme mit dem Lachhaften zu verbinden. Arnon Grünberg kann's bestens.

Man sieht einen Jugendlichen, der einen Kinderwagen durch die Drehtür schiebt. Das soll Arnon Grünberg sein? Der Hoteldirektor bestätigt es, und der muss seine Gäste ja kennen. Der Jugendliche scheint es zu geniessen, dass sich niemand im «Waldhaus» in Sils nach ihm umdreht, einmal abgesehen von der Drehtür.
Mit einem Kinderwagen bringt man Grünberg beimbesten Willen nicht in Verbindung, so wenig wie Proust, der einst dasselbe Entree durchmass und dabei sämtliche Blicke auf sich wirken liess. Versteckt sich Grünberg hinter einem Kinderwagen, um noch weniger aufzufallen? Später, im menschenleeren Vortragssaal, hotelintern «Sunny Corner» genannt, erläutert er, wie der Kinderwagen zu verstehen ist. Im letzten Sommer kam seine hochschwangere Ex-Freundin zu ihm nach New York, um da ihr Kind zur Welt zu bringen. «Im Spital dachten natürlich alle, ich sei der Vater. Das Kind kam und kam nicht raus. Als es dann endlich doch kam, sah es aus wie ein Latino. Da hat mich eine Krankenschwester beiseite genommen und gesagt: <Ach, Herr Grünberg, Sie werden noch eine Frau finden, die sie wirklich liebt.> Ich überlegte, ob ich ihr jetzt die Wahrheit sagen solle, dass ich nicht der Vater sei und auch nicht vorhabe, Vater zu werden, weil mir meine Arbeit wichtiger sei - ich habe dann aber nur genickt.»

Mitleid mit dem Espressotrinker

Mitleid kann Grünberg nicht ausstehen. In seinem neuen Buch schreibt er, das Mitleid kümmere sich «vor allem um diejenigen, die schön, jung und noch einigermassen straff sind; ändern, was alt und verfault ist, verrottet und verfallen, will es sich die Hände nicht schmutzig machen». Grünberg scheint aber vom Mitleid verfolgt zu werden, obwohl er gewiss der Letzte wäre, der sich schön findet. Jung ist er immerhin noch mit seinen 34 Jahren.
Er ist gerade aus Namibia zurückgekehrt. Eigentlich gefiel es ihm in der Hauptstadt Windhuk ganz gut. Er braucht wenig, um sich wohl zu fühlen. Eine Pizzeria mit einem anständigen Espresso genügt. Und als die Kellnerin nach dem dritten Tag von selbst den Espresso und das Mineralwasser an den Tisch brachte, fühlte sich Grünberg bereits wie zu Hause. Bis deutsche Touristen, die es im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika massenweise gibt, an seinen Tisch kamen und fragten, was er denn so allein hier mache. Er solle sich doch zu ihnen setzen. Da ist es auch im fernen Windhuk angelangt, das Mitleid.
Deutsche Kolonialtruppen kannten noch nichts dergleichen. Zur Zeit Wilhelms II. liessen sie das aufständische Hirtenvolk der Hereros in Prototypen späterer Konzentrationslager verenden oder zu Tausenden in der Wüste verdursten. Für eine Wiedergutmachung reicht das Mitleid der Deutschen bis heute nicht, aber wenigstens für einen einsamen Espressotrinker in Windhuk, der einer von ihnen sein könnte.
Tatsächlich hätte Arnon Grünberg einer von ihnen werden können, wären da nicht die Nazis gewesen. Seine Eltern wurden in Berlin geboren, mussten aber emigrieren und blieben nach dem Krieg in Amsterdam. Grünberg hat einmal über das «böse Wort mit J» geschrieben, das er lieber vermeide, «weil (meiner Erfahrung nach) - vor allem in Deutschland - alles anders wird, sobald dieses Wort einmal gefallen ist. Als würde ein Farbfilter vor eine Linse geschoben und alles auf einmal grün oder blau oder braun; harmlose Gespräche verwandeln sich in peinliches Schweigen, wenn das Wort mit J fällt...» Sein Vater, der untertauchen musste, nicht als Jude, sondern als desertierter Wehrmachts-soldat, hat dem Sohn früh beigebracht, ein Individuum zu sein und seinen eigenen Weg zu gehen. Arnon Grünberg flog vom Gymnasium, verliess mit siebzehn das Elternhaus, schlug sich, ja, als Tellerwäscher durch. «In der Freizeit setzte ich mich oft mit einem Buch in eine Pizzeria. Jetzt bin ich doppelt so alt und gehe immer noch regelmässig in eine Pizzeria mit einem Buch in der Hand.» Als ob nichts geschehen wäre.
Dabei gehört Arnon Grünberg inzwischen zu den bedeutendsten Schriftstellern der jüngeren Generation. Seit über zehn Jahren fliegt der Holländer durch die internationalen Bestsellerlisten. Der als «Wunderkind» und «Enfant terrible» zugleich gehandelte Autor legt fast jede Saisonein neues Buch vor, schreibt daneben noch mindestens zwei Kolumnen pro Woche für Zeitungen und produziert Pointen wie andere Leute Handygebühren.
Nicht umsonst gilt er als neuer Woody Allen, obwohl er eigentlich die elektrisierenden Monologe von Al Pacino lieber mag. Für den FAZ-Rezensenten Dirk Schümer ist Grünberg schlicht «ein Genie, ein literarischer Jahrhundertglücksfan». Kann man Lobgesänge dieser Preislage überhaupt steigern? Und doch müsste man es können, denn Grünberg wird mit jedem Buch noch besser.
Vielleicht aus Mitleid mit den Rezensenten legte er sich vor einigen Jahren einen zweiten Namen zu: Marek van der Jagt. Der Bubentrick hatte den gewünschten Effekt: Grünberg schrieb nun unter zwei Namen und wird seither auch für zwei gelobt. Arnon Grünberg und das Phantom Marek van der Jagt teilen sich gleichmässig die Last der Hymnen. Inzwischen lüftete der Autor zwar das Geheimnis um seine Person, damit sich die Feuilletons nicht in zu aufwendige kriminalistische Textprobenanalysen stürzen. Trotzdem schreibt er unter beiden Namen weiter.
Das Magazin des Tages-Anzeigers fand vor rund einem Jahr doch noch eine Steigerung - jene ins verrucht Biografische: «Arnon Grünberg schreibt, wie er lebt: obsessiv, pornografisch, süchtig nach Risiko. Weil das zu viel ist für einen allein, erfand er sich ein zweites Ich.» Versteckt sich hinter dem von Zapfenlocken eingerahmten Harry-Potter-Gesicht ein poetischer Triebtäter? Angesprochen auf das Image, das von ihm kursiert, antwortet Grünberg etwas verlegen: «Sexwird oft zu wichtig genommen. Er ist weniger romantisch, als viele Leute glauben wollen.
Oft wird eine Beziehung kompliziert und mühsam, sobald Sex ins Spiel kommt. Sex kann direkt ins Unglück führen. Mir fällt Lampedusa ein, der schrieb, er kenne die Liebe: fünf Monate Feuer, fünfzig Jahre Asche.»

Süsser Vogel Einsamkeit

Es ist eine Illusion zu meinen, bloss wer eine Psychoanalyse absolviert, richtig atmen lernt, ein ausgefülltes Sex-Portfolio hat oder autogenes Training beherrscht, weiss, was bewusst zu leben heisst. Wer wirklich bewusst lebt, leidet schrecklich. Extreme Schüchternheit ist wohl die schlimmste Form bewussten Lebens. Darunter litt der jugendliche Arnon. «Schüchternheit», sagt er, «hat mit einem übertriebenen Bewusstsein zu tun. Du registrierst alles und denkst, alle Leute um dich herum haben nichts Gescheiteres zu tun, als ebenfalls jede deiner Bewegungen zu registrieren. Das ist nicht besonders praktisch, wenn du verliebt bist und dir gleichzeitig immer in ironischer Distanz auf die Finger schaust.»
Grünberg kann komplexe Gefühlszustände anschaulich beschreiben. Irgendwann habe er dann gemerkt, dass er den Leuten um ihn herum total egal war. «Eine angenehme Erfahrung.»
Grünbergs neuer Roman «Der Vogel ist krank» erzählt von einem Übersetzer namens Beck, der sich an allen Fronten zurückzieht, seine Gefühle auf ein Minimum reduziert. Die Schriftstellerei hat er an den Nagel gehängt. Ehrgeiz hält er für eine «ebenso grosse Plage wiedie Jagd nach dem Glück, ein Schwärm Insekten, der um deinen Kopf kreist...» Auch von seiner Lebenspartnerin, die er «Vogel» nennt und die über den Spracherwerb von Tieren forscht, erwartet er wenig, Sex schon lange nicht mehr. Sie teilen vor allem die Einsamkeit. «Sexualität», so Beck, «führt nicht zum Glück, sie lenkt vielmehr davon ab.» Becks Freundin sieht das anders. Sie holt sich zuweilen einen «Verworfenen» ins Bett. Mal ist es ein Krüppel, mal ein Clochard. Beck duldet diese Form von «Sozialarbeit» oder «Helferkomplex», wie er sich ausdrückt. Sie duldet wiederum, dass er regelmässig einen zum Puff umfunktionierten israelischen Schutzkeller aufsucht, wo er vergisst, wer er ist, und ganz Kunde sein kann. Er führt eine Art Selbstversuch durch: «Von wie viel kann man sich verabschieden, bevor das Leben aufhört, Leben zu sein?» So sehr Beck die Gefühle herunterdimt, sie holen ihn wieder ein. Selbst das Bordell ist kein Ort, um Emotionen aus dem Weg zu gehen.

Liebäugeln Sie auch gelegentlich mit einem Stoiker-Dasein? Das hat enorme Vorteile. Man ist weniger verwundbar.

Muss man nicht von Betrug sprechen, wenn nicht einmal das Bordell einen vor Gefühlen bewahrt? Wie überall, wo Menschen zusammentreffen, gibt es auch da Intimität, die zu weit geht und zur emotionalen Belastung wird.

Das klingt nun aber nicht sehr obsessiv und pornografisch? Wissen Sie, Sex ist nett, aber einfach nicht besonders ergiebig. Ich rede jetzt als Schriftsteller. Da können Sie kaum noch Tabus verletzen. Das Tabu sind Beziehungen ohne Sex. Damit verunsichern Sie die Leute, treten ihnen schnell zu nahe. Heute können Sie im Zug sagen: «Wow, gestern hatte ich Spitzensex gehabt.» Da schaut keiner komisch. Aber wenn Sie sagen: «Ich hatte seit vier Jahren keinen Sex mehr mit meiner Partnerin», drehen sich garantiert alle um.

Für die Romanfigur Beck ist seine Partnerin alles Mögliche: Mutter, Schwester, Tochter, nur nicht Geliebte. Die holländische Originalausgabe trägt den Titel «De asielzoeker». Die Freundin erfährt, dass sie unheilbar krank ist. Sie sagt Beck, dass sie heiraten möchte. Aber nicht ihn, sondern einen Asylbewerber, den sie kennen gelernt hat und der für Geld Leute vermöbelt. Die beiden Männer pflegen die Kranke gemeinsam, siezen sich dabei, und während die Frau mit ihrem neuen Mann die Hochzeitsnacht geniesst, richtet sich Beck unter der Garderobe im Korridor ein. Eine typische Grünberg-Situation: trostlos und komisch zugleich.
Grünbergs Humor ist einer auf Leben und Tod. Er mag es, wenn einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Selbst über den Umgang mit dem Holocaust macht Grünberg sich lustig: Im Roman «Phantomschmerz» (2003) bewahrt den Schriftsteller Robert Mehlmann das Verlegenheitswerk «Die polnisch-jüdische Küche in 69 Rezepten» vor der Pfändung. Vom deutschen Publikum angeschoben, avanciert das Buch über «Kochen nach Auschwitz» zum Weltbestseller. «Humor darf fast alles», sagt Grünberg, «eigentlich alles, er muss nur gut gemacht sein. Humor entschuldigt allerdings nicht alles. »In Deutschland irritieren Grünbergs Pointen manchmal, was ihn nicht wundert. «Es ist kein Grund, vorsichtig zu sein. Die eine oder andere Zumutung schadet den Deutschen nicht. Prekär wäre es, wenn man sie schonen würden. Im Übrigen: Schauen Sie sich mal im lnternet um, wie da über den Holocaust geschrieben wird. Im Vergleich dazu ist alles harmlos, was in Büchern steht» Grünberg beschäftigt anderes mehr als eine makabre Spasskultur, die vielleicht bald auch den Holocaust als Thema entdeckt. Viel bedrohlicher ist für ihn, dass das Lachen selbst unmenschlich, brutal, abstossend sein kann. «Wenn Sie mal auf die Rolle des Clowns, auf den Woody Allen Hollands abonniert sind, lachen die Leute sogar an Stellen, die überhaupt nicht komisch sind. Vom Lachen geht dann eine zerstörerische Wirkung aus. Lachen kann ein Totschläger sein.»
Humor gehört zu den Dingen, die der Held des neuen Romans ebenfalls abgeschafft hat, denn der Humor «kam ihm vor wie ein Gas, mit dem man die Leute abtötet». Grünberg setzt Slapsticks nun sparsamer ein als in früheren Büchern. Dafür kommen die leisen Töne besser zur Geltung. Es gelingen dem Autor auf einer einzigen Buchseite mehr unvergessliche Sätze als Houellebecq in einem ganzen Kapitel und einem durchschnittlichen Schweizer Dichter in einem ganzen Roman. Sätze wie: «Solange man das eigene Glück anstrebt, ist man ständig am Warten.» oder: «Man muss nicht alles wissen wollen, alles wissen zu wollen, ist etwas für Menschen, die sich ihrer Sache nicht sicher sind.»
Wenn er nicht gerade auf Reisen ist - für ihn immer auch eine Art Versteck -, lebt Arnon Grünberg in New York wunderbar abgesondert. Im gleichen Gebäude wohnt eine Amerikanerin, die er mag, obwohl er von ihr lediglich den Vornamen kennt. «Wir reden nie. Wenn wir uns mal guten Morgen sagen, habe ich hinterher das Gefühl, wir seien sehr intim miteinander gewesen.» In New York ist es nie ein Thema, ob einer Jude ist oder nicht. Anders als in Europa und besonders in Deutschland fühlt er sich dort nicht auskunftspflichtig nach jedem antisemitischen Vorfall. «Für mich, der ich nicht religiös bin, ist es eine Wohltat, nicht an erster Stelle als Jude wahrgenommen zu werden.» Er könnte aber auch anderswo leben. Zum Beispiel in Sils oder in Windhuk. «Es fiele mir schwer, einen Ort zu nennen, wo ich es nicht aushielte. Vielleicht Amsterdam.»

Ausgerechnet Ihre Heimatstadt? Ich lebe seit zehn Jahren nicht mehr dort. In dieser Stadt spüre ich immer einen Druck. Ich kann nicht anonym leben. Meist will irgend jemand etwas von mir. Und es ist ein kleiner Stadt.

Zweimal so gross wie Zürich... Ja, aber in Amsterdam gehst du in ein Café. Und anderntags sagt dir bestimmt einer, du seist in diesem oder jenem Café gesichtet worden. Man fühlt sich beobachtet wie in einem Dorf.

Alle sagen, Amsterdam sei so offen... Ein Mythos. Verglichen mit New York ist es eine aggressive Stadt. Seit einiger Zeit liegt dort ein Fremdenhass in der Luft. Den brauche ich nicht.

Grünberg kann auch überall auf der Welt schreiben. Er hat stets sein Laptop dabei und einen Koffer mit zirka zwanzig Steckern für alle Länder, um jederzeit seine Mails zu checken. Sie sind sein wichtigster Kontakt mit der Aussenwelt. Kollegen, die angeblich immer nur am gleichen Tisch zur gleichen Zeit am gleichen Ort schreiben können, misstraut er. «Entweder geht es überall oder nirgends. Schreiben ist Disziplin. Da bin ich streng mit mir und anderen. Unsereins erfindet eine Menge Ausreden, nur um die eigene Faulheit zu kaschieren.»
Ein Hotelangestellter erscheint, um das Mikrofon und die Sitzreihen für den abendlichen Vortrag herzurichten - nicht von Grünberg, sondern von irgendeinem Oberengadiner Nietzsche-Spezialisten. Man hat nun vollends das Gefühl, ins Leere zu sprechen.
Arnon Grünberg erläutert unbekümmert die These, warum man allein auch nicht glücklich werden kann. «Unscheinbarkeit», sagt er, «ist vielleicht tatsächlich eine Bedingung des Glücks, wie meine Romanfigur Beck behauptet. Aber ein bisschen Anerkennung brauchst du schon, wenigstens eine Kellnerin in Windhuk, die weiss, was du trinken möchtest. So viel Anerkennung brauchst du, dass du merkst, du bist noch ein Mensch.»