Arnon Grunberg
ORFF,
2014-09-21
2014-09-21, ORFF

Der Mann, der nie krank war


Irene Binal

Mir scheint, dass die Realität in einem Land wie dem Irak surreal ist. Dieses Gefühl habe ich versucht, zu vermitteln. Es handelt sich grundsätzlich um einen realistischen Roman. Was ich beschreibe, ist ganz nahe an der Wirklichkeit. Es ist nur nicht immer zu sehen.

Realistisch oder surreal? Arnon Grünbergs Roman „Der Mann, der nie krank war“ ist ein bisschen von beidem. Im Mittelpunkt steht der Architekt Sam, ein Idealist, der an die Kraft des Schönen glaubt und es in seinen Bauten verwirklichen will. Sams voller Name lautet Samarendra Ambani, er ist gebürtiger Schweizer, kann jedoch seine indischen Wurzeln nicht verleugnen. Für Arnon Grünberg ist sein Protagonist ein Wanderer zwischen den Welten, gleichzeitig fremd und vertraut:

Es geht um die Frage: wer ist die andere Person, was ist das Fremde. Es war für mich wichtig, dass es sich um einen Schweizer handelt, der jedoch in der Schweiz als fremd empfunden wird. Bei einer Lesung bin ich einmal auf einen Mann gestoßen, der für einen großen chemischen Konzern in Basel gearbeitet hat. Er hat Schweizerdeutsch gesprochen, war aber der Sohn aus Indien zugewanderter Eltern. Da hatte ich eine Figur: einen Halbinder, der Schweizerdeutsch spricht und keine Beziehung mehr zum Herkunftsland seiner Eltern hat, der aber doch in seiner Heimat vollkommen fremd wirkt.

Verwirrend: das ist ein Schlüsselwort für diesen Roman. Sam, der Schweizer, der so gar nicht schweizerisch aussieht, hat im Rahmen eines Wettbewerbs für eine Organisation namens World Wide Design Consortium ein Opernhaus für Bagdad entworfen und ist ins Finale gekommen. Nun reist er in die irakische Hauptstadt, um seine Entwürfe dort zu präsentieren. Aber nach seiner Ankunft häufen sich die Merkwürdigkeiten. In seinem Koffer findet Sam fremde Kleidung, die Männer, die zu seinem Schutz abgestellt sind, wirken mehr wie Bewacher, der Auftraggeber, ein gewisser Hamid Shakir Mahmoud, taucht nicht auf, es heißt, er sei tot, und am nächsten Tag sind auch die Personenschützer plötzlich nicht mehr da.
Sam, der unbeirrt daran glaubt, dass ihm als Schweizer eigentlich nichts passieren kann, versucht, allein zur Schweizer Botschaft zu gelangen, aber dann geht alles schief. Sein Pass ist verschwunden, er wird festgenommen und als Spion verdächtigt, misshandelt und erst nach Tagen von einem Botschaftsmitarbeiter befreit. In seiner schlichten und gleichzeitig doppelbödigen Prosa spiegelt Arnon Grünberg die brüchige Realität, der Sam begegnet, eine Realität, in der man nichts glauben und niemandem vertrauen kann und die Grünberg bei seinen Reisen in den Irak und nach Afghanistan selbst kennen gelernt hat:

In diesen Krisengebieten ist die Realität fundamental anders, als wir sie kennen. Unsere Gesellschaft baut auf ein gewisses Vertrauen, etwa darauf, dass eine Person, die sich Ihnen vorstellt, auch wirklich diese Person ist. In Afghanistan oder im Irak muss man davon ausgehen, dass jemand seine Identität verschleiert, dass Informationen, die man bekommt, nicht stimmen, und dass jeder Gründe hat, die Unwahrheit zu sagen. Das war für mich einfach nur mühsam und verwirrend. Auf Dauer verändert das die Psyche.

Irgendwie liest sich der Roman wie eine Parabel, auch wenn Grünberg das gar nicht beabsichtigt hat. Ihm ging es vielmehr darum, die gut gemeinten aber oft hilflosen Bemühungen des Westens in Kontrast zur Realität im Irak zu setzen - und ihm ging es auch um die Frage der gegenseitigen Wahrnehmung:

Es geht nicht nur darum, wie wir den Nahen Osten sehen, sondern auch um die umgekehrte Perspektive. Das fundamentale Problem von Sam ist, dass er nicht versteht, wie er wahrgenommen wird. Und dass die Tatsache, wie der andere ihn wahrnimmt, genau so wichtig oder vielleicht wichtiger ist, als sein Blick auf den Anderen. Das wird ihm zum Verhängnis.

Es ist ein kluger, kleiner Roman, hinter dessen äußerer Leichtigkeit sich Tiefen und mitunter sogar Fallgruben verbergen, ein Irrlicht an der Grenze zwischen Realem und Surrealem, ein Buch mit starkem Nachhall, das sich auf viele verschiedene Arten lesen lässt und dessen Protagonist irgendwie ebenfalls ein Rätsel ist:

Ist er naiv oder doch nicht? Sagt er die Wahrheit, kann man ihm trauen oder nicht? Ich wollte das Gefühl erzeugen, dass beim Lesen der Boden immer schwankender wird, dass man Lüge von Wahrheit nicht mehr unterscheiden kann und dass es doch möglich ist, Sympathien für Sam zu entwickeln, ihn zu verstehen.

Sympathisch ist Sam allemal, ein liebenswürdiger Held, dem Grünberg allerdings kein liebenswürdiges Schicksal zugedacht hat. Denn der Aufenthalt in Dubai verläuft für Sam katastrophal - aber das, so Grünberg, sei eben notwendig gewesen:

Die Realität ist manchmal düster, das kann man mir nicht vorwerfen.