Arnon Grunberg
Frankfurter Rundschau,
2015-05-03
2015-05-03, Frankfurter Rundschau

An der Heimatfront


K. Erik Franzen

Die Stoff-und-Ventilator-Methode ist doch ziemlich stillos. Um ein künstliches Feuer zu simulieren, schneidet man Stoffstreifen aus und befestigt sie so, dass sie nicht wegfliegen, wenn sie von einem Ventilator zum Flattern gebracht werden. Dann strahlt man sie von unten an. Das sieht irgendwie so gar nicht authentisch aus – dennoch findet man solche gefälschten Feuer immer wieder vor Restaurants. Auch in München. Guten Appetit! An diesem Abend ist man einem riesigen Exemplar dieser Gattung in den Münchner Kammerspielen ausgesetzt. Für die Abschiedsinszenierung von Johan Simons vor seinem Weggang im Sommer hat Katrin Brack ein mutiertes, mehr als zwei Meter hohes Lagerfeuer geschaffen: orange leuchtend, in der Mitte der Bühne befindlich, mit Rauch und Asche und Funken. Knapp zwei Stunden lang brennt es und brennt es.

Und irgendwie kann man den Blick nicht abwenden vom unablässig lodernden Kunstfeuer und den darüber tanzenden Funkenflocken. Ein archaischer Reflex? Für die Uraufführung von „Hoppla, wir sterben“ des niederländischen Autors Arnon Grünberg ist dieses Bühnenbild ein gelungenes Mittel. Denn die Geschichte des in Afghanistan vermissten Oberstleutnants Fuchs ist eine multiperspektivische Geschichtenerzählnummer mit skurrilen Akteuren. Arnon Grünberg überträgt Ernst Tollers Gesellschaftsdrama „Hoppla, wir leben“ (das zur Zeit am Residenztheater zu sehen ist) in die Heimatfront-Gegenwart. Am Feuer reden sie alle. So finden sich hier neben Angela Merkel (hinreißend zugeknöpft und verwirrt Annette Paulmann) eine Reihe gescheiterter Gestalten ein: Der „Unbestimmte“, der „Diskrete“ und der „Beinlose“ – um ein paar zu nennen. Und ihre Gedanken, Urteile, Äußerungen kreisen um Themen, die Konjunktur haben: die verletzte Identität des Einzelnen, das Fremdsein fast überall, und der Krieg, insbesondere die Rolle Deutschlands im Krieg am Hindukusch.

Old-School-Prothesen

Wolfgang Pregler muss als Beinloser nicht nur Old-School-Prothesen tragen. Mit schwarzem Hemd und mit kurzen schwarzen Hosen sieht er aus wie Oskar Matzerath als Möchtegern-SSler. Der Afghanistan-Veteran und von der Bundeswehr bestellte Tröster der Ehefrau des vermissten Oberstleutnants nimmt seine Aufgabe etwas zu wörtlich und ist den Zuneigungen der Töchter des Vermissten nicht abgeneigt: „Ich schlafe überall und nirgends / der halbneue Mensch hat keine feste Adresse / keinen Ort, wo er sein Haupt betten kann.“ Halb ist auch der „Diskrete“, André Jung, im weißen Unterhemd. Selbst impotent, betreut er als allwissender persönlicher Reiseführer arabische Impotente, die zur Heilung nach München kommen. Er sagt, halb larmoyant, halb abwesend: „Für ihn ist die Stadt eine Ansammlung Narben. Vom Menschen lässt sich das Gleiche sagen, wobei der Mensch in seiner hergebrachten Form die unangenehme Neigung entwickelt, seine Narben überall herumzeigen zu müssen.“ In dieser Narbenwelt bewegt sich auch Benny Claessens. Ein Chamäleon seiner selbst wechselt der zum heimlichen Star gereifte Schauspieler als der „Unbestimmte“ und der „interkulturelle Berater“ Rollen wie Cowboy-Chaps – immer an der Grenze der Selbstverletzung. Wenn er am Boden sitzend ein Lied über Deutschlands „erfolgreiche“ Gewaltgeschichte singt, breitet sich tiefe Stille und Anmut aus.

Neben absurd anmutenden Geschichten, wie der vom Afghanen, der in einer Münchner Edelboutique arbeitet und sich mit asiatischen Millionärsgattinnen streitet, stehen treffend-sarkastische Einwürfe: Hans Kremer als Lutz Bachmann aka Adolf Hitler im rot-weißen Dirndl hält einen erschreckenden Moslem-Monolog: „Leute, liebe Leute, wir haben nichts gegen Ausländer, wir unterstützen die Christen aus dem Irak, die hier leben, die Chinesen und Russen, die auf ihre Weise gegen den Islam kämpfen. Wir sind mit Herz und Seele Demokraten.“

Mehr Potpourri als Drama

Simons baut das alles konsequent als theatrale Installation auf, wie er das so oft gemacht hat an den Kammerspielen, seit er 2010 Jahren das Amt als regieführender Intendant übernommen hat. Das ist weniger Drama als Potpourri. Untermalt wird alles von einem Kammerorchester mit vier Streichern und einer Klarinette, die während der gesamten Aufführungsdauer den Klangteppich auslegen, auf dem das fantastische Kammerspiel-Ensemble seine Kunst entfalten darf. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Simons Verdienst im Laufe seiner Intendanz ist es gewesen, hier im sich stetig wandelnden Stadttheater seine Version eines „Theaters der Nationen“ zu entwickeln. Mit Schauspielern und Regisseuren aus halb Europa, mit unterschiedlichen Herangehens- und Spielweisen. Weit öffneten sich die Kammerspiele mit Lesemarathons, Konzertreihen, Performances und weltweiten, multi-medialen Debatten. Immer wieder kreisten die Suchbewegungen um das komplexe Verhältnis von Stadt und Welt. Gerade im doch eher saturierten, auf sich bezogenen München hat das gutgetan. Mit Simons waren die Münchner Kammerspiele eben kein Teil der Festung Europa, sondern ihr trojanisches Pferd, irgendwie.

Nun reitet er Richtung Heimat, da liegt die Ruhrtriennale, seine nächste Station, auf dem Weg. Wenn man der Selbstbeschreibung seines Herkunftsortes folgt, versteht man viel: „Dorfstraße 83, Heerjansdam, Insel Ijsselmonde, Süd-Holland, die Niederlande, West-Europa, später Europa, nördliche Halbkugel, Erde, All.“ Bedankt.