Arnon Grunberg
Passauer Neue Presse,
2013-10-25
2013-10-25, Passauer Neue Presse

Ins pralle Leben; Ungewöhnliche Reportagen von Arnon Grünberg


Andreas Wirthensohn

Als der junge russische Autor Isaak Babel noch nicht so recht wusste, wie man ein guter Schriftsteller wird (aber unbedingt ein solcher werden wollte), fragte er die Ikone Maxim Gorki um Rat. „Gehe unter die Menschen!", soll der als Antwort ausgerufen haben, und so trieb sich Babel sieben Jahre lang „unter den Leuten herum". Kurz darauf erschien der Erzählband „Die Reiterarmee" (1926), der ihn weltberühmt machte.
Auch der niederländische Autor Arnon Grünberg begibt sich gerne unter die Menschen und ins pralle Leben. Das hat nicht nur Folgen für seine zahlreichen Romane, sondern schlägt sich auch in der Gattung nieder, die der Realität am stärksten verpflichtet ist: der Reportage. „Ich schreibe, weil ich wissen will, wie die Leute das machen: leben." Und so fährt er an Weihnachten 2012 nach Griechenland, um die Eurokrise zu besichtigen und die Menschen danach zu fragen, wie sie denn leben in diesem von Arbeitslosigkeit, politischer Radikalisierung und Spardiktat geprägten Land. Er trifft auf ein vielschichtiges Land, in dem die Kneipen voll sind, in dem kaum jemand einen Job hat, in dem jeder auf die Kaste der Politiker schimpft und sich ganz neue Formen von Gemeinschaftssinn herausbilden.
Der 1971 geborene Grünberg, der in New York lebt, ist keiner, der mit vorgefasster Meinung fremde Welten betritt. Im Gegenteil: Seine Lieblingsstrategie ist die der teilnehmenden Beobachtung, und so stürzt er sich in alle möglichen Rollen, um authentische Erfahrungen zu machen. Ob als Zimmerjunge in einem bayerischen Hotel, als Kellner in Schweizer Zügen, als Masseur in Rumänien, als embedded journalist in Afghanistan oder - einer der Höhepunkte dieses Bandes - als Amerikaner auf Brautschau in der Ukraine - Grünberg beherrscht die Kunst der Camouflage wie ein Günter Wallraff, doch zum Glück fehlt ihm dessen investigativer Furor. „Vom Naturell her bin ich eher Melancholiker als Aktivist, Melancholie scheint mir für einen journalistischen Schriftsteller die intelligentere Form des Aktivismus. Meine Absichten gehen eher dahin, zu analysieren, als zu verändern." Und so gelingen ihm amüsante, tiefsinnige, traurige, ungewöhnliche Reportagen, die nicht beanspruchen, Literatur zu sein, sondern uns die Welt zeigen wollen, wie wir sie noch nicht kannten.