Arnon Grunberg
Frankfurter Rundschau,
2016-10-24
2016-10-24, Frankfurter Rundschau

Angst und Demut


Cornelia Geissler

Arnon Grünberg, zur Buchmesse eingeladen, um die niederländische Eröffnungsrede zu halten, hat nicht nur in Frankfurt drei Bücher hinterlassen. Zum einen sind das die Erinnerungen seiner Mutter Hannelore Grünberg-Klein (1927–2015): „Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich dazu keine Zeit“. Es wirkt zunächst befremdlich, dass er erst jetzt damit kommt, zumal sein neuer Roman auf die Verwandtschaft anspielt: „Muttermale“. Auch dass er das Buch seiner Mutter erst nach ihrem Tod richtig gelesen habe, nimmt nicht für ihn ein.

Als Kind in Berlin war das jüdische Leben für die Autorin etwas Selbstverständliches. Sie erzählt, wie alles zerbricht mit dem Umzug der Familie in die Niederlande, dem Fluchtversuch nach Kuba, dem Arbeitslager in Westerbork, den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz, Mauthausen, dem Tod der Eltern. Hannelore Grünberg-Klein stellt dar, dass sie auch in Schmutz und Kälte in den Tag hinein lebte – ihre Jugend schützte sie davor, das Ausmaß dessen zu überblicken, was ihr und allen anderen Juden angetan wurde.

Arnon Grünberg vermutet im Nachwort, er fürchtete die Lektüre aus Angst, „Mitleid mit meiner Mutter zu bekommen, und wenn sie etwas nicht verdient hatte, dann war es Mitleid“. Demütig räumt er ein: „Mein Oeuvre ist eine Fußnote zu diesem Buch und zum Leben meiner Mutter.“

Grünbergs Roman „Muttermale“ handelt von einem Psychiater, der im Krisendienst andere Menschen vor dem Selbstmord zu retten versucht. Überstürzt kündigen die beiden Pflegerinnen, die er für seine alte Mutter engagiert hatte. Daran ist er nicht unschuldig. Die Suche nach einer neuen Pflegekraft ist schwer. Das größte Hindernis steckt in der Person der Mutter selbst – und ist auch für den Leser eine solche Überraschung, dass es nicht verraten werden darf.

Aberwitzige Szenen spielen sich ab. Die Mutter setzt ihr Judentum als eine Waffe ein, mit Worten spitz wie Nadelstiche. Arnon Grünberg, der in manchem bisherigen Roman das Jüdische zu deutlich zur Provokation nutzte, zeigt sich hier als Meister des ironischen Spiels mit Erwartungen und gesellschaftlichen Normen.

Ganz anders liest sich „Die Datei“, eine Novelle, schon weil die Heldin eine junge Frau ist, die noch bei den Eltern lebt. Sie arbeitet in einer Startup-Firma, verbringt aber sämtliche Freizeit im Internet. Sie überschreitet Grenzen zwischen der realen und der virtuellen Welt, bis sie auf dem Weg zwischen beiden in Verwirrung gerät. Das ist rasant und mit viel Komik erzählt. Für den Autor war die Novelle ein besonderes Experiment: Er hat sein Hirn bei der Arbeit daran von Neurowissenschaftlern kontrollieren lassen. Besucher der Messe konnten sich einer ebensolchen Untersuchung unterziehen, während sie Grünbergs „Datei“ lasen.