Arnon Grunberg
Westdeutsche Allgemeine Zeitung,
2016-09-28
2016-09-28, Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Arnon Grünbergs Muse ist seine Mutter gewesen


Britta Heidemann

Der niederländische Bestseller-Autor Arnon Grünberg lebt in New York, jetzt aber ist er in Amsterdam zu Besuch. So erreicht ihn Britta Heidemann in seinem alten Elternhaus – und mitten im neuen Roman „Muttermale“: Hier wie dort ist Grünbergs Mutter lange zu Hause gepflegt worden, bevor sie im Februar 2015 starb. Hannelore Grünberg-Klein aber wird nicht nur durch den Roman in Erinnerung bleiben, sondern auch durch ein eigenes Buch – das von einer Kindheit in der „Holocausthölle“ erzählt.

Ihre Mutter schildert, wie die Familie 1939 von Berlin nach Kuba reist, dort aber nicht an Land gelassen wird, lange in einem niederländischen Lager lebt – und nach Auschwitz gelangt. Dort sterben Ihre Großeltern. Ihre Mutter kann 1945 in Mauthausen den US-Soldaten gerade noch entgegenkriechen, sie ist 17. Wann haben Sie diese erschütternden Erinnerungen zum ersten Mal gelesen?

Grünberg: Erst nach ihrem Tod. Meine Mutter hat es geschrieben, kurz bevor mein Vater 1991 starb. Sie hat es damals an Verleger in Holland geschickt, aber die hatten kein Interesse. Sie hat das Buch dann kopiert und an die Familie verteilt. Mein Exemplar habe ich nicht nach New York mitgenommen, sondern in meinem alten Kinderzimmer liegen gelassen. Ich hatte Angst, dass ich etwas lesen würde, dem ich nicht gewachsen wäre.

Und als Sie es dann gelesen hatten?

Ich war überrascht über ihre trockene Art, die Dinge aufzuschreiben. Trotzdem gab es natürlich Stellen, die mich entsetzt haben.

Diese Erlebnisse waren vorher nie ein Thema?

Doch, meine Mutter hat darüber gesprochen, aber wie nebenbei. Sie hatte einen skurrilen Humor. Wenn sie sehr wütend war, hat sie zu mir oder zu meiner Schwester gesagt: In Auschwitz hatte ich es besser als bei euch!

Ernsthaft?

Ja. Ich habe das akzeptiert. Sie hat immer geschildert, dass sie im KZ noch sehr viel Hoffnung hatte. Sie hat erst später erfahren, dass ihre Eltern tot waren. Sie hat immer gesagt: Ich war ein Kind, ich habe alles so genommen, wie es eben kam.

Wie war Ihr Verhältnis?

Als Kind war ich ein Muttersöhnchen. Wenn wir zum Spielplatz gingen, saß ich immer neben ihr und schaute den anderen Kindern zu. Als 1994 mein Debütroman „Blauer Montag“ herauskam, war sie etwas böse auf mich und es gab eine Zeit, in der unser Verhältnis schwierig wurde. Trotzdem rief ich sie jeden Tag an, seit ich in Amerika lebte.

Jeden Tag?

Ja. Als sie krank wurde, konnten es auch drei Anrufe am Tag sein. Ich habe sie oft zu Ärzten begleitet. Einmal sagte sie zu mir: Du bist wie ein Vater für mich. So eine Rolle ist nie leicht: Zugleich bleibt man Kind und übernimmt doch Verantwortung.

Vieles davon ist in Ihren Roman eingeflossen.

Ja, meine Mutter war eine große Inspiration. Als sie krank wurde, wollte sie unbedingt zu Hause bleiben. Im Roman gibt es zwei Pflegerinnen aus Nepal, in der Realität kamen sie von den Philippinen. Plötzlich war sie nicht mehr allein im Haus, das war seltsam für sie. Trotzdem war ich so oft wie möglich in Amsterdam Allerdings gab es einmal Streit: Da hatte ich eine Lesung und sagte, ich bin gegen elf zu Hause. Dann wurde es halb eins. Und sie ist wach geblieben und hat geschimpft. Plötzlich war ich wieder der pubertäre Sohn, der sich herumtreibt...

Sie haben einmal geschrieben, Ihre Mutter habe Ihr ganzes Werk beeinflusst.

Ich habe sie meine Muse genannt, das war nur ein halber Witz. Sie war so eigenartig für mich, eine völlig Fremde und zugleich meine Mutter. Als Teenager war das oft ein Problem, aber auch ein Problem kann eine Inspiration sein. Als ich die ersten Preise bekam, dachte ich: Jetzt wird meine Mutter sicher stolz sein.

Und?

Naja, sie hat es nie gezeigt. Ihr Prinzip war, die Kinder immer weiter anzuspornen. Das hat mich auch diszipliniert. Einmal hat sie im Interview gesagt: Naja, Literatur ist nicht so mein Ding – das Wichtigste für mich ist, dass mein Sohn ein nettes Mädchen findet und bald heiratet.