Arnon Grunberg
3sat - Kulturzeit,
2016-10-06
2016-10-06, 3sat - Kulturzeit

"Für mich ist Identität immer etwas Fragwürdiges"


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Arnon Grünberg ist einer der bekanntesten und produktivsten niederländischen Schriftsteller. Seine Romane wurden vielfach ausgezeichnet. Grünberg lebt und schreibt in New York. Sein neues Buch "Muttermale" stellt er auf der Frankfurter Buchmesse vor, die er gemeinsam mit der flämischen Dichterin Charlotte Van den Broeck eröffnet. Denn Flandern und die Niederlande sind 2016 die Gastländer der Messe.

Sie haben in einem Buch den schönen Satz geschrieben: "In unserer Kultur ist Identität Fastfood." Warum?

Viele glauben, sich Identität kaufen zu können - oder sie basteln sich eine und glauben dann, das seien sie. Fastfood deshalb, weil viele Identität für eine Selbstverständlichkeit halten, über die man nicht lange nachdenkt. Man denkt, das bin ichund das will ich immer sein und das war ich auch schon immer. Für mich ist Identität immer etwas Fragwürdiges. Nichtetwas Selbstverständliches.

Wie definieren Sie Identität?

Sie ist eine Erzählung, die man selbst erzählt und in der oft Wahrheit zu finden ist, aber auch viel Mythos und viel Unwahrheit.Ich glaube, Identität ist das, was man braucht, um nicht völlig auseinanderzufallen. Aber man muss sie immer wieder hinterfragen. Ich selbst konnte nie sagen: Das bin ich und ich kann nichts anderes sein. Meine Erfahrung ist, dass man sich immer wieder an die Situation anpasst und flexibel ist. Nicht immer, aber oft ist Flexibilität etwas sehr Gutes.

Wie sieht die niederländische Identität aus?

Es gibt ja den berühmten Satz von Königin Máxima, die nach der holländischen Identität gefragt wurde und darauf antwortete,dass es die nicht gebe. Viele Holländer waren verärgert. Auch wenn ich kein großer Liebhaber des Königshauses bin, fand ich doch, dass das eine kluge Antwort war. Eine holländische Identität, die überall stimmt, die gibt es nicht. Schon derUnterschied zwischen dem nördlichen protestantischen Teil und dem südlichen katholischen ist noch immer wichtig, auchwenn die meisten Leute nicht mehr in die Kirche gehen. Aber man sieht einfach den kulturellen Einfluss.

Warum haben Sie die Niederlande verlassen?

Ich war 22 und verliebt in eine Frau, die in Holland aufgewachsen, aber Amerikanerin ist. Ich bin dann einfach mitgegangen,das war für mich etwas Selbstverständliches. Und dann bleibt man ein Jahr, zwei, drei Jahre, und nach einer gewissen Zeit musste ich zugeben: So, ich lebe jetzt da. Ich hatte auch nicht das Bedürfnis, zurückzugehen. Holland habe ich nie wirklich als Heimat empfunden. Holländisch als Muttersprache, das schon. Amsterdam, da bin ich aufgewachsen. Aber das Heimatgefühl, das war ganz abstrakt. Denn wenn man so etwas nicht mitbekommt von zu Hause, dann spürt man es auch nicht so. Meine Eltern kamen ja beide aus Berlin. Weil ich noch immer meist auf Holländisch schreibe, habe ich auch nicht das Gefühl, dass ich meine Muttersprache verliere. Ich fühle mich noch immer ziemlich wohl in New York. Es ist eine Stadt, in der Multikulti wirklich gelungen ist. Man braucht nicht aus Amerika zu kommen, um sich da wohlzufühlen. In einer Stadt wie Paris - die ich auch liebe - ist es viel schwieriger, sich zu Hause zu fühlen. Sie schreiben von New York aus für die holländische Zeitung "de Volkskrant"“ eine Kolumne. Über Themen, die sie bewegen, auch über die niederländische Politik. Ich kann das ja alles von New York aus verfolgen. Es ist nicht so, dass ich ein Außenseiter bin. Vielleicht war ich immer ein Außenseiter, darüber kann man reden. Aber es ist jetzt nicht so, dass ich Holland nicht mehr verstehe, nur weil ich woanders bin. Ich würde sogar sagen, man versteht Sachen viel besser, wenn man nicht mehr die ganze Zeit da ist.

Und welche Veränderungen stellen Sie fest in der niederländischen Gesellschaft?

Naja, das sind keine großen Überraschungen, aber seit 2001 hat sich vieles geändert. Ich bin aufgewachsen in den 1970er,1980er Jahren, und da gab es eine Selbstzufriedenheit in Holland, weil man meinte, wir sind das toleranteste und weltoffensteVolk, das es gibt und wir müssen nur noch den anderen Völkern auf der Welt zeigen, wie man leben sollte, und dann wird alles gut. Und das hat sich völlig geändert. Es gab ja diese zwei Attentate - 2004 den Mord an Theo van Gogh und 2002den an Pim Fortuyn -– und danach ist Holland immer weniger weltoffen geworden und politisch nach rechts gerückt. In denUmfragen ist jetzt die PVV - Partij voor de Vrijheid (deutsch: Partei für die Freiheit) die stärkste Partei. Ich würde sagen, die sind noch radikaler als die AfD in Deutschland. Das ist eine Tendenz, die man nicht nur in Holland sieht, aber irgendwiehatte ich das Gefühl, dass Holland da Vorreiter war.

Auch in Ihrem neuen Roman "Muttermale" stellen Sie oft die Frage nach der Identität. Warum treibt Sie dasThema immer wieder um?

Na, ich glaube, das ist eine der wichtigsten Fragen, die man sich selbst stellen kann. Denn die ganzen Beziehungen zu anderen Menschen, zu der Welt, sind ja abhängig von der Frage "Wer bin ich? Wie sehe ich mich selbst?" Man darf sich jaeigentlich nicht verwandeln. Die Leute sehen gewisse Seiten an einem Menschen, und dann muss der so bleiben. Und dasfinde ich irgendwie schade, denn es gibt ja so viele Möglichkeiten. Ich bin ein neugieriger Schriftsteller und als Mensch neugierig auf andere Personen, aber ich bin auch immer wieder neugierig, wie ich selbst reagiere in gewissen Situationen undwie mich das verändert. Das ist ein Grund, warum ich nicht nur Romane schreibe, sondern immer wieder journalistischeProjekte mache.

Warum haben Sie "Muttermale" geschrieben?

Meine Mutter war eine ganz große Inspiration. Das Buch hatte - wie das oft der Fall ist -– einen Arbeitstitel: das "Mutterbuch". So hat mein Verleger es auch genannt. Als ich es schrieb, lebte meine Mutter noch, und ich bin für dieses Buch wirklich bei ihr eingezogen. Sie lebte tatsächlich mit einer Frau - nicht aus Nepal (wie im Roman), sondern von den Philippinen - zusammen, die sich um sie gekümmert hat. Und das hat meine Mutter stark verändert, sie ist dadurch eine andere Frau geworden. Sie war eine schwierige, aber auch sehr lustige Frau, und das wollte ich in dieses Buch einbringen. Aber für mich ging es - nicht nur wegen der Krankheit meiner Mutter - auch um die Frage: Was ist Gesundheit, was ist Normalität? Und wie sorgt man für eine Person? Wie weit muss man da gehen? Ganz am Anfang hatte ich die Idee, die männliche Hauptfigur sollte ein Mathematiker sein, aber das habe ich ganz schnell wieder verworfen. Und gerade weil ich auch verschiedene journalistische Projekte in der Psychiatrie gemacht habe, wurdemir klar: Das ist das eigentlich das, was ich brauche. Ich brauche einen Sohn, der sich beruflich damit beschäftigt, fürandere Leute zu sorgen. Der Psychiater war also ein Glücksfall, kann man sagen. Ein Mann, der sein ganzes Leben darauf verwendet, Leute vom Selbstmord abzuhalten, aber selbst nicht weiß, ob das Leben wirklich die Mühe wert ist.Sie schreiben auch über schwierige Themen sehr humorvoll.

Warum ist Ihnen Humor so wichtig?

Aus verschiedenen Gründen. Ich glaube, auch in der schwersten Literatur - selbst bei Dostojewski - gibt es immer eine gewisse Ironie. Ich kann mir keinen Roman ohne Ironie vorstellen. Und ich würde sagen, Humor ist auch eine Überlebensstrategie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man weiterleben kann, ohne sich selbst zu relativieren, ohne auch mal zu sehen, wie merkwürdig, wie absurd man selbst ist, und die Leute und die Welt, in der man lebt. Und ich würde sagen, dass Humor auch etwas mit Intelligenz zu tun hat (lacht). Das hoffe ich jedenfalls.

Was prägt die niederländische Literatur momentan?

Interessant ist, wenn man heutzutage holländische Literatur liest, dann hat man gar nicht das Gefühl, dass es nur ein Holland gibt. Man merkt, wie unterschiedlich die Ansichten sind, über ein Land, eine Stadt, eine Epoche.

Wie unterscheiden sich die Themen der flämischen und der niederländischen Literatur voneinander?

Wenn man in Belgien aufwächst, hat man ein anderes Verhältnis zur Sprache. Man lebt in einem Land, das zweisprachigist und in dem die Sprache auch eine Vergangenheit hat. Der flämische Nationalismus ist ja ganz anders als der holländische, den es jetzt auch wieder gibt. Das ist nicht zu vergleichen. Zum Beispiel hat Stefan Hertmans ein Buch über den Ersten Weltkrieg geschrieben. Über seinen Großvater. Aber der Erste Weltkrieg war nie in Holland. Schon das ist ein ganz großer Unterschied.

Welches niederländische Buch empfehlen Sie?

Also ich würde sagen, lesen Sie "Max Havelaar" von Multatuli. Um die holländische Literatur besser zu verstehen, ist dieses Buch notwendig. Es ist kein leichtes Buch, aber es ist sehr witzig und einfach ein Klassiker. Es ist schon alt, aber das Alte ist ja nicht unbedingt schlecht. Ein anderes tolles Buch ist "Die Dunkelkammer des Damokles" von Willem Frederik Hermans.