Arnon Grunberg
Der Standard,
2016-10-15
2016-10-15, Der Standard

"Spiel zwischen Mutter und Sohn"


Bert Rebhandl

Mit seinen in 27 Sprachen übersetzten Werken ist Arnon Grünberg einer der erfolgreichsten niederländischen Autoren. Ein Gespräch über seine Mutter, die Messbarkeit von guter Literatur und Überheblichkeit als Falle

STANDARD: Herr Grünberg, wir treffen uns hier in Berlin, wo Sie eine kleine Wohnung haben. Offiziell leben Sie aber in New York. Sind Sie dort überhaupt gelegentlich?

Grünberg: Also, ich bin in den letzten zehn Jahren wirklich viel gereist, aber rund die Hälfte des Jahres bin ich tatsächlich in New York. Ich will mich auch nicht zum Sklaven des Betriebs machen. Demnächst fahre ich aber nach Bulgarien.

STANDARD: Das wäre auch ein wenig unfair, ausgerechnet in Bulgarien nicht aufzutreten.

Grünberg: Das wäre unfair, das sehe ich genau so. Außerdem war ich noch nie da, ich bin auch immer wieder neugierig.

STANDARD: Sie sind dauernd unterwegs und veröffentlichen sehr, sehr viel. Schreiben Sie auch im Flugzeug?

Grünberg: Ich schreibe auch im Flugzeug, nicht Romane, aber meine Kolumnen. Das geht auch gar nicht anders. Meine Konzentration hängt nicht vom Ort ab. Ich kann auch sehr gut in einem Hotelzimmer arbeiten. Kurze Stücke von einem Roman entstehen auch im Zug.

STANDARD: Wenn Sie einen Roman wie Muttermale schreiben – wie viel wissen Sie da schon zu Beginn?

Grünberg: Das ist unterschiedlich. Mein Roman Tirza beruht auf einer Kurzgeschichte, die den ganzen Plot des Romans schon enthielt. Bei Muttermale habe ich einiges geändert, aber die Dreiecksgeschichte zwischen dem Psychiater Kadoke, seiner Mutter und einer Patientin war schon da. Ich weiß eine ganze Menge, wenn ich zu schreiben anfange, aber wenn sich gar nichts mehr ändert, bin ich unbefriedigt. Außerdem recherchiere ich für alle meine Romane sehr viel.

STANDARD: Die Qualität Ihrer Bücher liegt für mich stark in der Feinarbeit. Da sitzt wirklich jedes Wort, auch noch in der Übersetzung. Woher kommt dieser lakonische Ton?

Grünberg: Das Drama soll nicht zu deutlich werden. Das habe ich auch von meiner Mutter. Sie hat so gesprochen, mit Humor und Aggression, aber doch lakonisch.

STANDARD: Die Lebensgeschichte Ihrer Mutter Hannelore Grünberg-Klein erscheint diesen Herbst auch auf Deutsch. Wie war Ihr Verhältnis?

Grünberg: Ich war meiner Mutter immer sehr nahe. Meine große Enttäuschung in der Jugend war, dass ich Schauspieler werden wollte, daraus wurde aber nichts. Das erste Buch, Blauer Montag, war dann sehr autobiografisch. Für meine Mutter war das nicht leicht. Ich bin nach New York gegangen, fühlte mich groß und erwachsen und dachte: Jetzt brauche ich meine Mutter nicht mehr. Als sie 2010 krank geworden ist, hat sich alles geändert. Mir wurde klar, dass ich so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen muss.

STANDARD: Haben Sie sie auch gepflegt, vielleicht ähnlich unbeholfen wie Kadoke seine Mutter?

Grünberg: Meine Mutter wollte sich von mir nicht helfen lassen – obwohl sie Hilfe brauchte. Ich bin dann immer hinausgegangen, wenn eine Pflegekraft kam. Das war so ein Stolz, den ich mit Muttermale nachvollziehen wollte.

STANDARD: Von Ihrem Vater haben Sie weniger übernommen?

Grünberg: In den Niederlanden kommen jetzt Briefe heraus, die ich vor 1994 geschrieben habe, vor meinem Debüt als Schriftsteller. Ich war überrascht, dass ich so viel geschrieben habe. Einer Kellnerin habe ich 20, 30 Briefe geschrieben. Der Verleger hat diese Personen gefunden, die meisten hatten die Briefe noch. Fleißigkeit war wichtig in meiner Erziehung. Vor allem mein Vater fand einen Tag, an dem man nichts getan hatte, einen verlorenen Tag.

STANDARD: Jetzt müssten Sie ja nicht mehr in dem Tempo arbeiten. Sie sind sehr erfolgreich.

Grünberg: Es ist keine Frage der Ökonomie. Ich kann auch mit weniger Geld auskommen. Es ist eine Frage des Ehrgeizes – vor allem aber des Könnens. Jetzt, wo ich es kann, mache ich es eben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Menschen, die mir nahestehen, mehr Zeit mit mir zustehen würde. Aber eine gewisse Vernachlässigung des Privatlebens gehört zum Schriftstellerleben.

STANDARD: Rauchen Sie?

Grünberg: Ich habe nie geraucht. Ich habe recherchiert und mich gewundert, wie viele Menschen noch rauchen, wo es doch jetzt ein Tabu geworden ist. Kadoke in Muttermale muss rauchen. Man braucht etwas. Es ist eine Neurose. Jeder hat eine Neurose.

STANDARD: Das Rauchen ist in Muttermale ein ganz einfacher, aber sehr wirksamer Running Gag. Es verrät viel darüber, wie Sie schreiben, finde ich.

Grünberg: So war es auch gemeint. Wichtig ist dabei auch das Spiel zwischen Mutter und Sohn. Sie tut so, als würde sie es nicht riechen.

STANDARD: Ihre Bücher legen frei, wie viel Spannung in unserem banalen Alltag steckt.

Grünberg: Und zwar viel mehr, als wir mitbekommen. Vieles bemerken wir unbewusst – vor allem Peinlichkeiten oder Empfindlichkeiten. Wie weit soll man mitgehen mit Empfindlichkeiten? Ich glaube: weit.

STANDARD: In Muttermale geht es auch um Unterschiede. Kadoke ist Jude, will aber keiner sein. Er ist aber auch nicht "weiß". Irgendwann wird er sogar zum Nepalesen – ein brillanter Moment.

Grünberg: Die Frage der Identität ist entscheidend. Als ich mit Psychiatern mitging, um diese Welt kennenzulernen, ging es viel um den Begriff "Patient". Es ist ungeheuer, was mit dieser Bezeichnung alles einhergeht. Genau das Gleiche gilt für "weiß" oder "schwarz". Ich fühle mich nicht als weißer Mann, das wird meiner Situation nicht gerecht. Eigentlich hat das Buch mit dieser Szene angefangen: Kadoke verliebt sich in die nepalesische Betreuerin seiner Mutter. Sie ist jung und illegal im Land. Es ist ihm gar nicht bewusst, dass das eine Machtsituation ist. Eine kulturelle Situation. Dass ihr Freund eifersüchtig sein könnte, erscheint ihm absurd.

STANDARD: Kann man "kein Jude mehr" sein?

Grünberg: Schwierig. Was heißt es, Jude zu sein, wenn man nicht mehr religiös ist? Für mich ist die Antwort eine Verantwortung gegenüber meinen Eltern, obwohl sie nicht mehr leben. Es ist übermütig zu meinen, man könnte sich davon loslösen. Ich bin auch Holländer, obwohl ich nicht in Amsterdam lebe. Ich schäme mich, wenn Holländer sich schlecht benehmen. Mit Amerikanern habe ich das nicht.

STANDARD: Das ist eine gute Definition von Identität: Leute, für die man sich schämen kann.

Grünberg: Ich habe einmal Folgendes erlebt: Ich esse oft allein. Meistens lese ich dabei ein Buch. Neben mir saß ein Paar. Der Mann sagte zu der Frau: Das ist typisch für Juden – immer lesen sie beim Essen. In mir ging es rund. Woher weiß er, dass ich Jude bin? War das eine antisemitische Bemerkung? Das war für mich so ein Punkt, an dem mir klar wurde, dass ich davon nicht leicht loskomme, dass ich Jude bin. Es war mir peinlich.

STANDARD: Die Niederlande galten lange als erfolgreiche multikulturelle Gesellschaft. Da hat sich wohl einiges verändert.

Grünberg: In den 80ern gab es noch dieses Selbstbild: Wir sind die Guten. Aus Österreich hörte man schon von Haider. Bei uns wäre so etwas nie möglich, hieß es. Heute sind Populisten stärker denn je.

STANDARD: Was ist passiert?

Grünberg: Das eine Ereignis war 9/11, das andere die Morde an Pim Fortuyn und Theo van Gogh. Dass das zu einem solchen Zusammenbruch des Konsenses führen würde? Vermutlich ist die schlechte Botschaft einfach die bessere. Es hört sich besser an, wenn jemand sagt: Europa steht vor dem Abgrund. Ich habe einmal geschrieben, die Niederlande hätten gute medizinische Versorgung. Da hagelte es Briefe.

STANDARD: Kadoke arbeitet im niederländischen Gesundheitssystem. Der Held in Der Mann, der nie krank war ist Architekt. Wie viel von Ihnen steckt in den Männern?

Grünberg: Mit Kadoke habe ich mich wirklich angefreundet. Bei dem Architekten habe ich zum Beruf viel recherchiert. Aufgefallen ist mir aber vor allem eine gewisse Naivität. Viele denken: Ich baue etwas Ästhetisches, ich stehe außerhalb der Politik.

STANDARD: Gilt das auch für Sie als Autor, als Reporter, zum Beispiel wenn Sie in den Irak fahren wie der Architekt in Ihrem Roman?

Grünberg: Ich versuche immer, eine Reise gut vorzubereiten, aber es gibt immer zwei drei Momente, in denen ich etwas riskiere, was eigentlich nicht zu verantworten ist. Überheblichkeit ist eine Falle, die mir nicht fremd ist. STANDARD: Gibt es eine Arroganz des schriftstellerischen Durchblicks? Grünberg: Ich halte mich für einen guten Beobachter, aber mir ist immer deutlicher klar geworden, wie wenig ich durchschaue.

STANDARD: Haben Sie eigentlich literarische Vorbilder?

Grünberg: So blöd bin ich nicht, dass ich glaube, alles finge mit mir an. Aber die Arroganz muss man haben, dass man meint, man habe etwas zu sagen, was noch zu sagen ist. Ich habe immer viel gelesen, schon als Kind. Isaak Babel war für mich immer wichtig. Philip Roth dagegen weniger, der war mir zu amerikanisch, er ist zweifellos gut, bleibt mir aber fremd.

STANDARD: Zu Ihrer aktuellen Novelle Die Datei, die hier nur als E-Book erschienen ist, haben Sie ein Experiment gemacht.

Grünberg: Ich habe mich neurologisch messen lassen, während ich Die Datei geschrieben habe. Und es wurden auch 50 Leser gemessen, während sie das Buch lasen.

STANDARD: Eine Geschichte über das Netz, deren Produktion und Rezeption vernetzt wird.

Grünberg: Unser Gehirn hängt heutzutage am Internet. Es stört mich, wie oft heute das Handy aufgesucht wird. Seit meine Mutter nicht mehr lebt, stelle ich es meistens auf still. Das war eine Erleichterung, dass man endlich das Handy ausschalten kann.

STANDARD: Lillian, die Hauptfigur in Die Datei, ist Internetzombie.

Grünberg: Lillian kommt aus meinen Recherchen, zum Beispiel bei einem Workshop über Social Engineering. Da sieht man Menschen, die zeichnet einerseits ein gewisser Nihilismus aus, andererseits eine große Wut, die zugleich politisch ist und auch wieder nicht. Ein Glaube an die Lösung durch Politik ist kaum vorhanden.

STANDARD: Lillian kann den Computer auf keinen Fall aufgeben.

Grünberg: Sie ist ja auch ängstlich. Als ich bei Anonymous recherchiert habe, da saßen wichtige Leute bei ihrer Mutter im Keller.

STANDARD: Lillian hat einen "Kuhhintern". Das ist so ein typisches, in diesem Fall auch anstößiges Detail, an dem man Ihr Schreiben gut erkennen kann.

Grünberg: Das ist ein Wort, das ich auf einer Hackerkonferenz aufgeschnappt habe. Da hat es eine Frau über ihre Mutter gesagt. Das ist mehr als eine Beschreibung, das ist ein Urteil. In so einem Moment geht für mich eine ganze Welt auf. Aus einem einzigen Satz kann man fast eine Figur bauen.

STANDARD: Wenn Sie selbst so etwas schreiben – schlägt dann die Gehirnmessung aus?

Grünberg: Das Ergebnis war enttäuschend. Mein Herzschlag war manchmal schneller, das könnte aber am Kaffee gelegen haben.

STANDARD: Gute Literatur ist also noch nicht messbar?

Grünberg: Bisher nicht. Einmal war ich auch im MRT. Das ist ein lautes Gerät, und mit dem Kopf in der Röhre sollte ich dann schreiben. Zwei Leute haben auch einmal Sex gehabt in so einem Scanner. Dagegen ist der Versuch mit dem Schreiben noch harmlos.

STANDARD: Sie sind Autor und auch Reporter. Wie finden Sie Themen?

Grünberg: Das eine hat immer zum anderen geführt. 2006 habe ich in Afghanistan angefangen, also lag es nahe, mit Kriegsgebieten weiterzumachen. Diesen Sommer war ich in Schlachthöfen. Das ist auch ein Kriegsgebiet.

STANDARD: Auch so ein Running Gag in Muttermale: die koscheren Knackwürste. Mutter und Sohn bei einer Art Schonkost.

Grünberg: Das ist wie in der Kindheit. Manche Kinder müssen bekniet werden, etwas zu essen, ältere Leute genauso. Meine Mutter achtete immer auf ihre Ernährung. Plötzlich ist das gekippt, und sie stopfte Gummibärchen in sich hinein. Aber wozu soll man sich noch gesund ernähren, wenn man alt und krank ist?

STANDARD: Lillian aus Die Datei praktiziert einen leicht missratenen Veganismus. Wie halten Sie es mit dem Fleisch?

Grünberg: Ich esse Fleisch – auch nach den Schlachthöfen. Ich esse nicht koscher, aber Schweinefleisch ist für mich eine Hemmschwelle. Wenn man so viel reist, sind Regeln schwierig. Wenn man im Orient Essen ablehnt, ist das eine Beleidigung. Meine Überzeugungen sind weniger wichtig.

STANDARD: Das berührt die Frage des Fundamentalismus. An solchen Regeln hängen Religionen.

Grünberg: Meine Schwester ist sehr religiös, ich kenne diese Welt gut. Wenn es um das Leben geht, sind die Gesetze zweitrangig. Wie ich das Judentum verstehe, gibt es eine Flexibilität. Das kann in Opportunismus und Bequemlichkeit umschlagen. Aber ohne Flexibilität gibt es keinen Humanismus.