Arnon Grunberg
Radio Zwei,
2021-04-17
2021-04-17, Radio Zwei

Mit 15 flog er vom Gymnasium, aber das ist lange her. Mittlerweile ist er 50 und längst ein gefeierter Schriftsteller. Er hat viele internationale Bestseller gelandet und hochkarätige Literaturpreise abgeräumt. Jetzt ist der neuste Roman des niederländischen Autor Arnon Grünberg auf Deutsch erschienen. Das Buch heißt „Besetzte Gebiete“ und Christine Gorny kennt es. „Besetzte Gebiete“ – da denke ich spontan an Israel. Liege ich damit richtig?

Ja, auch wenn Arnon Grünberg nicht in Israel lebt, sondern in Amsterdam, New York und Berlin, führt sein neuster Roman ins gelobte Land. Die Hauptfigur ist - wie der Autor selbst - ein niederländischer Jude aus Amsterdam: Otto Kadoke, ein Psychiater, der unverdächtig linksliberal tickt. Trotzdem zieht er nicht ins hippe, weltoffene Tel Aviv, sondern ins zionistische Milieu der besetzten Gebiete im Westjordanland. Seinen hoch betagten und leicht demenzkranken Vater, einen Holocaustüberlebenden, hat er auch noch im Schlepptau. Und die beiden hausen nun in einem sparsam möblierten Container inmitten enthusiastischer israelischer Siedler und Siedlerinnen auf den Hügeln im Weltjordanland mit Blick auf palästinensische Dörfer.

Was verschlägt denn den linksliberalen niederländischen Juden unter zionistische Siedler nach Israel?
Die Liebe zu einer Israelin, einer entfernten Cousine, von deren Existenz Kadoke nichts wusste und die eines Tages unangemeldet in Amsterdam vor der Tür steht. Er verliebt sich Hals über Kopf in sie, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass er insgesamt einen Neuanfang bitter nötig hat, nachdem gerade seine gesamte bürgerliche Existenz zertrümmert wurde. Er hat nämlich seine Approbation als Psychiater verloren, weil ihm eine ehemalige Patientin sexuellen Missbrauch vorwirft und ein Erfolgsschriftsteller diesen brisanten Stoff auch noch zu einem Roman verarbeitet hat. So wird der Psychiater zum öffentlichen Abschuss frei gegeben und der Shitstorm, der ihn umtost, ruft auch Antisemiten auf den Plan, schließlich ist Kadoke Jude. To make a long story short: Kadoke sieht in seiner Heimat, in den Niederlanden, keine Zukunft mehr und so macht sich der Atheist Kadoke kurzentschlossen auf zur ultra-religiösen Cousine in Israel, die ihn sofort heiraten will.

Wenn die beiden so unterschiedlich sind, kann man sich ja kaum vorstellen, dass das gut geht?
Zumal Otto Kadoke ein Antiheld ist, dem sowieso nichts gelingt, auch ein Neuanfang nicht. Wer andere Romane von Arnon Grünberg gelesen hat, kennt Otto Kadoke bereits. Ein Psychiater, der mit sich selbst schlecht zurechtkommt, schüchtern, zurückgezogen, zynisch, mit einem distanzierten Verhältnis zum eigenen Leben, ein reaktiver Mensch, der nur durch Lebenskrisen aktiv wird. Krisen hat er jetzt jedenfalls reichlich zu bewältigen, auch in Israel geht das so weiter, und dabei ist es wirklich erstaunlich, wie viele aktuell relevante Themen und gesellschaftliche Debatten Grünberg in diesem Roman unterbringt und durchaus auch kritisch beleuchtet. Es geht um Identitätspolitik, Palästinakonflikt, europäischen Antisemitismus, Altenpflege, Psychiatriekritik, Me-to- Debatte und um die Rolle von Literatur bei all dem. Die vielen Themen entwickeln sich schlüssig aus der Handlung, nichts wirkt konstruiert. Und ich liebe Grünberg für lakonisch treffende Sätze wie: „Empörung ist momentan groß in Mode“ oder „Es sind andere Zeiten heute. Mit neuen Besen. Die kehren unerbittlich“

Wie hat dir der neue Roman von Arnon Grünberg denn insgesamt gefallen?
Es ist ein typischer Grünberg, voll übler Überraschungen, witziger Dialoge, grotesker Handlungsverläufe. Ein Buch, das einen nicht kalt lässt. Man weiß nur oft nicht, ob man lachen oder weinen soll. Wenn beispielsweise eine SSMütze den Nachkommen von Holocaustopfern als Antörner beim Sex dient und es dann im Bettgeflüster heißt, „Halte die vergasten Juden aus deinem Sexualleben heraus“. Solche Tabubrüche mag Arnon Grünberg. Stellenweise übertreibt er es allerdings mit seinen Provokationen. Wenn etwa die Windelekzeme des alten Vaters im Großformat beleuchtet werden oder Kadokes künftige Schwiegermutter dem Paar zunächst beim Sex zusieht, um die Potenz ihres Schwiegersohnes zu überprüfen und dann selbst aktiv ins Geschehen eingreift, da wird es für meinen Geschmack zu eklig und klamaukig. Zumal sich die Szene gleich über mehrere Seiten zieht. Aber insgesamt ist es ein höchst originelles und sehr aktuelles Buch, verfasst von einem aufmerksamen und geistreichen Beobachter unserer Zeit. Also Daumen hoch!