Arnon Grunberg
Seniorweb,
2011-03-31
2011-03-31, Seniorweb

Mitgenommen


Marc Toedtli

Ein Buch über Kampf, Kindersegen und Freiheit

Mitgenommen wird Lina - als sie eines Tages vom Haus des Majors wegläuft, um ihre leiblichen Eltern zu suchen - auf einem alten Lastwagen und in ein Bergdorf verfrachtet, wo sie bei Bergleuten wohnt. Als die einzige Frau in der Mine wird sie regelmässig missbraucht.

Grünberg, ein literarisches Wunderkind

Als eines der produktiveren Schreibtalente weit und breit, ein Niederländer, der in New York lebt, bringt Arnon Grünberg in der Regel ein Buch pro Jahr heraus. Seine Werke wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. „Mitgenommen“ ist Reisebericht, Krimi und Tatsachenbericht zugleich.

Eine anrührende Frauenbiografie

Bei einer Hausdurchsuchung werden Linas Eltern getötet. Da seine Ehe kinderlos geblieben ist, nimmt ein Major, dessen Ehe kinderlos geblieben ist, das Kleinkind mit. Die kleine, scheue aber intelligente Lina hat grosse Mühe, sich in das luxuriöse Sein des Ehepaars einzuleben. Während der Major einem Ideal nachlebt, das es nicht gibt, langweilt sich seine Frau Paloma sich zu Tode, kann sich aber einfach nicht mit der Idee anfreunden, ein völlig fremdes Kind als ihr eigenes zu betrachten. Niemand im Haushalt kümmert sich um Lina, nicht einmal die Haushälterin. Der Major, an korrekte Verhältnisse gewohnt, beschafft sich einen falschen Ausweis für Lina und schickt sie in eine Privatschule.

Schicksalsumschwung

Da eine Truppe vom Nahrungsmittelkonvoi, der sich im Gebiet der Terroristen des Regimes (die der Armee gegenüber feindlich gesinnt sind) befindet, keine Nahrung mehr erhält, will der Major, als pflichtbewusster Armeeangehöriger, diese aufsuchen und ihr helfen.

Um unbemerkt zu bleiben, muss der Konvoi am frühen Morgen aufbrechen. Beim Appell stellt der Major jedoch fest, dass man ihm junge, unerfahrene Leute zugeteilt hat. Die Mission erweist sich als schwieriger als erwartet: schon bald fährt ein Fahrzeug auf eine von Rebellen gelegte Mine auf, es gibt Tote; schlechte Strassen, weitere Explosionen, und einige Soldaten, die die Expedition abbrechen wollen. Der Major bleibt unerschütterlich, vielleicht weil er die drohende Gefahr unterschätzt. Die in dieser unwirtlichen Gegend wohnenden Rebellen bringen schliesslich den Konvoi in ihre Gewalt und nehmen den Major gefangen. Sie wollen sich an jemandem rächen, der die Obrigkeit vertritt, weil sie schon seit langem von der Regierung nicht mehr wahrgenommen werden. Der Major wird verurteilt und anstatt ihn zu töten, hängen sie ihn an einem Seil in einen tiefen Schacht hinunter, wo er ohne Wasser und Nahrung stirbt.

Von Schändung zum Reichtum

Lina, im Hause des Majors noch immer fremd, läuft eines Tages weg, um ihre leiblichen Eltern zu suchen, weiss jedoch nicht, woher sie stammt. Nach vielen Umwegen wird sie auf einem alten Lastwagen in ein Bergdorf verfrachtet, wo sie bei Bergleuten wohnt. Als einzige Frau in der Mine wird sie regelmässig missbraucht.

In der Folge lernt sie einen jüngeren Mann kennen, welcher sie mit dem „Dirigenten“ zusammenbringt, der Lina als seine Mätresse mit in die Stadt nimmt, in der er mit seiner Frau wohnt. Eigentlich hat er sie ausgewählt, weil sie sehr gut schiessen kann. Lina lebt mit anderen Frauen zusammen, wird bald schwanger und bekommt ihr Baby, Karl, das sie eigentlich gar nicht will.

Die exakt erzählte Geschichte hört hier plötzlich auf. Im letzten Kapital erfahren wir, dass Lina dank dem Waffenhandel eine reiche Frau geworden ist.

Realitätsnahe Sozialkritik

Einerseits entspricht diese Geschichte ziemlich genau der aschgrauen Realität, welche die mausarmen Leute in Südamerika erleben, während sich Millionäre in den Städten jeden nur erdenklichen Luxus leisten können.

Der Roman ist nicht einfach nur die Geschichte eines Mädchens, das allein durchs Leben gehen muss, sondern eine sozialkritische Erzählung, welche uns vor Augen führt, wie arg es um die Zustände in zahlreichen so genannten zivilisierten Ländern geht. Die Menschen, welche ohne Bildung aufwachsen, müssen um das bare Überleben kämpfen und werden dann in höchst dubiose Geschäfte gewickelt.

Es ist ein gutes Buch, mit viel Können geschrieben. Es schildert die traurigen Seiten einer Gruppe von Menschen, über die kaum je berichtet wird. Es hat mir gut gefallen trotz seines für einen Roman eher an der oberen Grenze liegenden Umfangs. 'Mitgenommen' ist spannend und, wie bei Diogenes üblich, hervorragend ins Deutsche übersetzt.

Gerne werde ich weitere Bücher von Grünberg lesen, einem Autor, den wir uns merken müssen. Ein interessantes Buch für eine lesefreudige und sozialkritische Leserschaft!