Arnon Grunberg
Bookreporter,
2011-01-11
2011-01-11, Bookreporter

Mitgenommen


Winfried Stanzick

Arnon Grünbergs neuer, voluminöser Roman ist von seinem Inhalt her eine seelische Herausforderung an jeden Leser. Er hat in einem erschütternden Buch, das vom absoluten Niedergang und Verlust der Menschlichkeit handelt, sicher viele Erlebnisse und Eindrücke verarbeitet, die er bei seinen Einsätzen als Kriegsreporter in Afghanistan und im Irak gesammelt hat.

Der Roman spielt in einem fiktiven Land in Südamerika. Unrecht und Elend überall, die vom Staat als Terroristen bekämpften Guerilleros werden immer stärker. Als Major Anthonys Gruppe bei einem Einsatz zwei Verdächtige erschießt, nimmt er kurz entschlossen das überlebende Kind der Opfer mit nach Hause. Selbst zeugungsunfähig, will er die kleine Lina seiner Frau schenken. Doch die reagiert kalt. Liebe auf Kommando geht nicht. Der Major kämpft mit seinem schlechten Gewissen, denn er ist loyal, ein Militär durch und durch, hart und kalt. Aus diesem schlechten Gewissen heraus lässt er sich von seinem Vorgesetzten, der mit seiner Frau ein Verhältnis hat (sie erhofft sich von ihm ein eigenes Kind), zu einer Mission in die Berge schicken. Die Einheit wird von den Aufständischen aufgerieben. Sie machen dem Major einen Prozess, verurteilen ihn dazu, vergessen zu werden und versenken ihn lebend in einen Schacht.
Genau in dieses arme Bergarbeiterdorf wird Lina, die von der Frau des Majors geflohen ist, eines Tages von Aufständischen, die sie aufgelesen haben, gebracht. Erneut wird sie „mitgenommen“. Eine Familie nimmt sie auf, sie arbeitet in den Goldminen. Von Major Anthony ist keine Rede mehr, seine Geschichte bricht ab und wird auch nie mehr aufgenommen.

Umso ausführlicher wird die Jugend von Lina erzählt, die erbärmlichen Lebensverhältnisse in den Bergen. Eines Tages kommt der „Dirigent“, der Chef der Aufständischen ins Dorf, wo er Lina begegnet. Arnon Grünberg schildert sehr ausführlich den Lebensweg dieses Mannes, dessen Eltern dereinst als (jüdische?) Flüchtlinge ins Land kamen und sich anpassten. Er, der einst Gedichte schrieb und eine Dozentur an der Universität innehatte, radikalisiert sich und wird zum immer unmenschlicher werdenden Anführer von Menschen, die nur in der Gewalt ihre Hoffnung sehen.

Der „Dirigent“ findet Gefallen an Lina, zeugt mit ihr einen Sohn, den er Karl nennt (nach dem jüdischen Revolutionär Karl Radek). Lina wird zum dritten Mal „mitgenommen“.

Im letzten Kapitel, das man auch zuerst lesen kann, trifft die mittlerweile zur Waffenhändlerin aufgestiegene Lina auf einen Journalisten, den man ruhig mit dem Autor identifizieren kann. Ihm wird sie ihre ganze Geschichte erzählen und er wird sie aufschreiben zu einem Roman, auf den man sich einlassen muss. Für das, was er beschreibt, für das Elend und die Gewalt, die Inhumanität nicht nur bei den Herrschenden, sondern auch bei den Aufständischen, gibt es keine schöne Sprache.

Ein aufrüttelnder Roman ohne Hoffnung