Arnon Grunberg
Der Spiegel,
2010-11-03
2010-11-03, Der Spiegel

Vorsicht, explodierende Rakete! Arnon Grünbergs Alptraumtrip "Mitgenommen"


Hans-Jost Weyandt

Der Keizer ist tot, es lebe der Keizer! Kaum waren die Nachrufe auf Harry Mulisch gedruckt, da begann in den Niederlanden schon die Suche nach seinem Nachfolger. Zum Wochenanfang präsentierte das "NRC Handelsblad" online eine Liste von Kandidaten, die dem weltberühmten Autor als "nieuwe keizer", neuer Kaiser, der niederländischen Literatur nachfolgen könnten. An ihrer Spitze stand mit Arnon Grünberg ein Autor, der dank seines Alters von 39 Jahre und jungenhaften Lächelns glatt als literarischer Newcomer durchgehen könnte. Ein Eindruck, der freilich weit in die Irre führt.

Denn schon seit den frühen Neunzigern legt der früh als "Wunderkind" Hochgepriesene jährlich gleich mehrere Bücher vor. Längst übersteigt die Zahl seiner Buchveröffentlichungen (43) die seiner Lebensjahre (39), und wenn ein Superlativ auf den in New York lebenden Holländer zutrifft, so jenes, dass er gewiss eines der produktivsten und schnellsten unter den viel versprechenden Schreibtalenten weltweit ist. Vielleicht sogar zu schnell umkreisen seine Romane und Essays mitunter in immer neuen Anläufen die großen alten Themen wie Liebe, Gewalt, Verlust und Tod und laufen dabei Gefahr, keine nennenswerten Spuren zu hinterlassen.
Atemlos riskant und gnadenlos gegenwärtig entführt Grünberg auch in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Werk, vom Verlag als "großer Südamerika-Roman" annonciert, in ein von Gott, Gedächtnis und Gewissen verlassenes Land, dem selbst der magische Realismus lateinamerikanischer Autoren keinen Zauber entlocken könnte: ein failed state ohne Hoffnung und Folklore, in dem die pure Gewalt eines ewigen Kriegs zwischen Militär und Aufständischen herrscht und das nackte Elend nicht mehr umhüllt ist von farbenfrohen Ponchos.

Die Trostlosigkeit ist derart monoton, dass ihre fortwährende Beschreibung zwangsläufig zur Parodie mutieren würde - und die Figuren zu Karikaturen von Typen, die mit einem sinnentleerten Restbestand an Identität dahinleben. Grünberg jedoch löst die Beschreibung in Handlung auf und folgt dabei in einem radikalen Präsens den engen Perspektiven seiner drei Hauptfiguren, die ein aberwitziger Gewaltakt für kurze Zeit zusammenschweißt. Auf einer nächtlichen Verhaftungstour entdeckt ein Major ein kleines Mädchen, dessen Eltern Minuten zuvor im Kugelhagel seiner Soldaten starben. Er nimmt das Kind in Besitz und zwingt es seiner Frau, die unter seiner Zeugungsunfähigkeit leidet, als Tochter auf.

Die bizarre Konstellation, die das Potenzial zu einer Familientragödie von antikem Format hätte, wären die Figuren selbstbestimmt, besteht als pervertierte Form eines bürgerlichen Ideals gerade so lange, um sie wie zum Hohn auf die Ohnmacht - auch des Majors - effektvoll sprengen zu können. Mit der Wucht einer alles verheerenden Gewalt werden die drei bis ans Lebensende auf zahlreiche Alptraumtrips gejagt, die sich wie in Zeitlupe über viele hundert Seiten erstrecken. Diese Gewalt ist zwar von Menschen gemacht, erzählt Grünberg, doch unwiderruflich hat sie sich ihrer bemächtigt. Nichts bleibt als der permanente Terror einer Gegenwart ohne Rückbindung und Ausflucht. Wollte man den Roman in ein Bild fassen, so gliche er einer Rakete, die kurz nach dem Start explodiert und deren Wrackteile bizarre Kondensstreifen an den Himmel zeichnet. Leider versucht Grünberg, die ausgebrannte Existenz des Mädchens bis in die Gegenwart fortzuschreiben und schwächt damit einen Roman, der über viele hundert Seiten fulminant erzählt, was Menschen aushalten können.