Arnon Grunberg
Neue Zürcher Zeitung,
2005-07-04
2005-07-04, Neue Zürcher Zeitung

Auswärtige Autoren


Gieri Cavelty

Ein barockes Völkchen hat der Visper Dichter Pierre Imhasly die Walliser einmal genannt. "Mit Paukenschlag und Pomp, mit Überschwang, Rhetorik und Exzessivität" gingen diese Herren der Seilbahnen und der Sportstadien stets zu Werke. Wie also sollte in einem Walliser Dorf auf 1400 Metern über Meer ein Literaturanlass stattfinden, der nicht wenigstens im Ansatz an ein grossartig inszeniertes Weltcup-Skirennen erinnerte? Nicht weniger als 31 Autoren hat Programmgestalter Ricco Bilger anlässlich der zehnten Ausgabe des Internationalen Literaturfestivals Leukerbad zwischen Freitag und Sonntag auf die Pisten geschickt. Auf der Startliste fanden sich die Namen gestandener Cracks, gefeierter Newcomer, aber auch hierzulande noch zu entdeckender Schriftsteller. Zu Letzteren gehören der in seiner slowenischen Heimat berühmte Lyriker Tomaz Salamun, sein melancholischer Kollege Ferenc Szijj aus Ungarn oder der 1966 geborene Österreicher Thomas Stangl, der mit seiner raunend-suggestiven Abenteuerprosa auf den Spuren von Christoph Ransmayr wandelt.

Da lasen am Freitagmittag Lars Gustafsson und Klaus Merz zur gleichen Zeit in verschiedenen Lokalitäten. An einer Stelle in Gustafssons jüngstem Roman "Der Dekan" schwärmt die Titelfigur von den Schweizern, "die mit kühnen Brücken, fast endlosen Tunneln und mächtigen Lawinengalerien ein nahezu unbewohnbares Land bewohnbar gemacht hatten". Im Gegensatz dazu findet der Protagonist in Klaus Merz' neuster Erzählung "Los" auf einer Wanderung in den Schweizer Bergen den Tod. Später bestaunte Yoko Tawada mit dem Blick des Chamäleons die Sprachen Deutsch und Japanisch, spielte mit der Wörter Klang und Sinn. Ungleich handfester, mit Mord- und Beischlafszenen, ging es zur selben Stunde bei Thomas Hettche zu und her. An Handfestigkeit übertroffen wurden Hettches Texte dann freilich durch die Gedichte des New Yorker Post-Beat-Poeten Ira Cohen.

So breit denn war das Spektrum dieses Jubiläumsfestivals: In Leukerbad wurde Literatur in sämtlichen Spektralfarben gezeigt, und weil man sich an einem Ort der Thermalquellen und der Wasserspiele befand, drängte sich als Sinnbild für die gebotene Vielfalt der Regenbogen regelrecht auf. Immerhin wurde dem Regenbogen als dem Symbol für ein friedliches Neben- und Miteinander ebenfalls Rechnung getragen und der Wettbewerb der Literaten um das Publikum letztlich doch nicht so hart geführt, wie Skirennfahrer um den Sieg kämpfen. Die Schriftsteller bestritten nämlich allesamt mehrere Auftritte; theoretisch konnte der Zuschauer jedem Autor mindestens einmal gegenübersitzen. In der Praxis indes ist wohl mancher der zahlreichen Festivalbesucher zwischendurch in eines der Kurbäder abgetaucht.

In Leukerbad in einem neuen Licht erschienen ist einem Jenny Erpenbecks Erzählkunst. Die 38-jährige Berlinerin tunkt, erkannte man nun plötzlich, ihre spröden Figuren in eine wasserklare Sprache, löst sie darin auf. Dergestalt präsentiert sich Erpenbecks unlängst publizierter Roman "Wörterbuch" über eine Kindheit in einer Militärdiktatur gleichermassen beklemmend wie erfrischend, inhaltsschwer trotz dem schmalen Umfang. Eine ganz andere Geschichte ist es derweil mit den monumentalen Gedichten von Pierre Imhasly. Überschwang und "Exzessivität" - das sind nicht zuletzt die Charaktereigenschaften von Imhasly selbst. In seinem jüngsten, noch druckfrischen Werk packt dieser Aficionado der Tauromachie das Wallis, diesen "schwarzen Stier des Zorns", bei den Hörnern. "Maithuna/Matterhorn" heisst das Langgedicht, worin der heute 66-Jährige ein weiteres Mal "alle Sehnsucht der Welt" vermengt, Sanskrit und Walliserdeutsch vermischt, aus dem Koran zitiert. "Maithuna/Matterhorn" ist ein bizarrer, nur schwer zu erklimmender Fels in der Literaturlandschaft. Desto schöner und bemerkenswerter ist es, dass es ein Literaturfestival gibt, das einem Aussenseiter wie Pierre Imhasly einen Startplatz gleich neben Bestsellerautoren wie Martin Suter oder Arnon Grünberg einräumt.