Arnon Grunberg
Frankfurter Rundschau,
2016-10-19
2016-10-19, Frankfurter Rundschau

„Ich werde immer Europäer bleiben“


Martin Oehlen

Herr Grünberg, das Motto des Länder-Schwerpunkts der Frankfurter Buchmesse lautet „Das ist, was wir teilen“. Manche meinen damit die Sprache, andere das Meer. Was denken Sie?

Ich denke, es geht für die Veranstalter um das Meer. Und natürlich geht es auch um die gemeinsame Sprache. Doch für mich persönlich ist das, was wir teilen: Europa.

Es hat dieses Schwerpunktthema Niederlande/Flandern schon einmal vor 23 Jahren gegeben. War dies damals der internationale Durchbruch für diese Literatursprache?

Ich war 1993 als freier Mitarbeiter für das holländische Radio nach Frankfurt geschickt worden. Mein Auftrag war herauszufinden, ob es eine holländische Seele gibt. Ich hatte nie das Gefühl, dass dieser Gastland-Auftritt entscheidend war – denn in Deutschland war unsere Literatur schon zuvor präsent. Aber vielleicht irre ich mich da.

Was erwarten Sie persönlich?

Ich habe nichts gegen Lesereisen, auch wenn man das nicht vier Monate lang machen sollte, weil man dann nur noch ein Zirkuspferd ist. Aber wenn ich mir jetzt das Programm für die fünf Tage in Frankfurt ansehe, dann scheint das schon zu genügen, um aus mir ein Zirkuspferd zu machen, das von einer Veranstaltung zur anderen geführt wird. Ich möchte allerdings jede Veranstaltung seriös machen, sonst geht einem die Freude verloren.

Sie werden neue Leser gewinnen.

Es hilft, ja, aber ich denke nicht, dass sich die Lage sehr verändern wird. Man möchte ja auch nicht wegen eines Schwerpunkts bekannt werden, sondern wegen seiner Bücher. Kürzlich hat jemand auf einer Lesung zu mir gesagt, ich sei der bekannteste unbekannte Autor der Niederlande in Deutschland. Cees Nooteboom sei zwar immer noch bekannter, aber ...

Was teilen Sie und Ihre belgische Kollegin Charlotte von den Broeck, mit der Sie zur Eröffnung aufgetreten sind. Mehr als Sprache und Meer?

Charlotte hat mir einmal gesagt, dass sie kritisch sei. Das bin ich auch. Aber es gibt auch Zeiten, in denen man den Status quo verteidigen muss. So meine ich zum Beispiel nicht, dass wir derzeit in Europa in der schlimmsten aller Zeiten leben. Aber viele politische Parteien, nicht nur in Holland, tun so, als könnte es gar nicht schlimmer sein. Da halte ich es für notwendig, das, was ist, zu verteidigen. Die Ansicht, dass die Welt eine bessere wäre, wenn wir die EU zerstörten, halte ich für falsch und gefährlich. Sie wird der Geschichte des Kontinents nicht gerecht.

Die Großwetterlage ist heute deutlich ruppiger als beim ersten Schwerpunkt im Jahre 1993.

Damals sprach man ja sogar vom Ende der Geschichte. Man glaubte, dass die Welt heil sei und es gab viel Hoffnung. Es schien auch für die Schriftsteller gar nicht notwendig zu sein, sich allzu sehr gesellschaftlich zu engagieren. Dann kam der 11. September 2001. Das war der Wendepunkt. Seitdem hat sich unheimlich viel getan. In Holland gab es dann ja auch noch die Morde an Pim Fortuyn 2002 und an Theo van Gogh 2004.

Sie leben seit vielen Jahren auch in New York.

Ich habe mich tatsächlich so richtig erst als Europäer gefühlt, als ich nach New York gezogen bin. In diesem Mischmasch dort leben ja sehr viele Europäer. Ich werde immer Europäer bleiben, das ist für mich sogar immer wichtiger geworden. Das denke ich zumal, wenn man mich fragt, was mir Holland bedeute. Auch weil ich weiß, dass es aufgrund des Hintergrunds meiner Eltern ein Zufall war, dass ich in Holland geboren worden bin.

Wie erleben Sie den US-Wahlkampf?

Ich bin davon überzeugt, dass Trump nicht Präsident wird.

Aber ist es nicht schon schockierend genug, das ein solcher Politiker überhaupt ein ernstzunehmender Kandidat sein soll?

Das stimmt. Und das sagt etwas aus darüber, wie es heutzutage um die Demokratie bestellt ist. Nicht nur in den USA. Auch in Holland und anderswo. Aber es gibt ganz grundsätzlich gesagt Kräfte in der Demokratie, die diese von innen zerstören wollen. Ich bin der Ansicht, dass die Sprache der Kneipe nicht in die politische Debatte gehört. Aber es gibt Wähler, denen so etwas gefällt. Populismus ist, so zu tun, als habe man Lösungen für Probleme, für die es keine Lösungen gibt. Die Migration hört nicht auf, nur weil man sagt, man wolle diese nicht.

Sie haben außerdem einen Wohnsitz in Berlin und beobachten die deutsche Gesellschaft. Wie bewerten Sie die hiesige Flüchtlingspolitik?

Migration kann man nicht stoppen, aber man kann sie besser verteilen. Dafür wird gesorgt. Angela Merkel war die einzige in Europa, die nicht nur von einer Katastrophe gesprochen hat, sondern davon, dass wir diese meistern können. Das fand ich unheimlich positiv. Und wenn man sich andere Regionen in der Welt ansieht, dann muss man sagen: Es geht uns in Europa ziemlich gut. Hier lässt es sich immer noch sehr gut leben. Darum wollen auch so viele hierher.

Auf der Flucht vor den Nazis hoffte Ihre Mutter selbst auf Aufnahme in Kuba, in den USA. Vergebens. Das schildert sie in den jetzt veröffentlichten Erinnerungen. Schauen Sie auch deshalb besonders aufmerksam auf die Flüchtlings-Debatte?

Natürlich. Zwar stehen wir nicht vor einem neuen Dritten Reich. Aber wenn man sieht, was sich in Syrien oder Afrika abspielt, dann geht es da um Leben und Tod. Und damals gab es ganz ähnliche Argumente gegen Flüchtlinge wie heute: Da sagte man, die deutschen Juden seien doch selbst Nazis, Spione und nähmen der Bevölkerung die Arbeitsplätze weg. Da hat sich nicht so viel geändert. Man sollte sich also nicht zu viel erwarten von den Zivilisationsprozessen.

Sie schreiben im Nachwort zu den Erinnerungen Ihrer Mutter, dies sei das wichtigste Buch Ihrer Karriere.

Das habe ich kurz nach dem Tod meiner Mutter geschrieben. Aber ich stehe dazu. Ich hatte stets das Gefühl, dass alles, was ich tue, im Schatten der Geschichte meiner Mutter stand. Es war auch immer ein wenig so, als müsste ich beweisen, dass ich auch etwas kann und fähig bin, gewisse Dinge zu überstehen. Als Kind fühlt man sich gegenüber den Eltern nicht verpflichtet, aber klein und ziemlich unwichtig.

Ist Ihr Roman „Muttermale“ die Reaktion auf den Tod der Mutter?

Den Plan dazu gab es schon lange. Ich wollte keinen Roman über meine Mutter schreiben, sondern über eine Mutterfigur. Meine Mutter war für mich auch etwas wie eine Muse. Das ist ein schwieriges Wort. Aber sie hat mich immer wieder inspiriert. Ich hatte auch das Gefühl, dass sie das Erscheinen dieses Buches miterleben würde. Aber mit dem Schreiben habe ich dann doch erst nach ihrem Tod begonnen.

Es geht auch um Fragen der Identität, um Liebe, Fürsorge und um Suizid-Prävention.

Ja. Und ich habe mir die Frage gestellt, wie es ist, wenn man als Kind, das man immer bleibt, eines Tages zur Elternfigur für die eigene Mutter wird. Einerseits sagte mir meine Mutter immer, dass ich mich wärmer anziehen und mehr essen sollte, andererseits erklärte sie ihrem Arzt, er möge lieber mit mir reden, weil ich wüsste, was gut für sie sei. Sie hat selbst einmal gesagt: Du bist jetzt mein Väterchen. Das empfand ich als etwas schizophrene Situation.