Arnon Grunberg
die taz,
2016-11-15
2016-11-15, die taz

Mütter und andere Notfälle


Shirin Sojitrawalla

Lebensläufe entgleisen zu lassen wie Güterzüge auf freier Strecke, darin ist der niederländische Schriftsteller Arnon Grünberg ein Meister. Seine Figuren verstrickt er dabei gern im Elend der Welt. In seinem neuen Buch „Muttermale“ geht er so weit, seinen Protagonisten feststellen zu lassen: „Mensch werden ist fehltreten“. Arnon Grünberg verortet also das Menschsein geradezu im Fehltritt.
In dem Roman hat Grünberg sich den 42 Jahre alten Psychiater Otto Kadoke vorgenommen, dessen Spezialgebiet die Suizidprävention ist. Seinen Vornamen bekam er nach Anne Franks Vater Otto Frank, womit das jüdische Umfeld, in dem Grünbergs Figuren oft siedeln, markiert wäre. Im neuen Roman aber ist das Jüdische nur eine Farbe unter vielen. Die Handlung ereignet sich fast ausschließlich in Amsterdam und beginnt mit einem Fehltritt Otto Kadokes.
Seine Mutter ist pflegebedürftig, und er macht sich eines Abends über ihre nepalesische Pflegekraft her. Das geschieht in dieser typisch Grünbergschen Art, die die Geilheit mit der Peinlichkeit kurzschließt, den Trieb mit dem Kolonialismus, was in diesem Fall eine urkomische Sexszene zeitigt, der man ebenso fassungs- wie atemlos beiwohnt. Die Pflegekraft indes quittiert den Dienst, und so kümmert sich erst einmal der kinderlose und geschiedene Sohn um seine Mutter. Dabei liefert Grünberg ein genaues Bild davon, was passiert, wenn die eigenen Eltern von Menschen zu Fällen degradiert werden. Kein Wunder, ist Grünberg doch 2014 zu Recherchezwecken bei seiner damals 87 Jahre alten und inzwischen verstorbenen Mutter Hannelore Grünberg-Klein eingezogen. Ihre Memoiren „Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich keine Zeit dazu“ erscheinen jetzt gleichzeitig mit dem Roman ihres Sohnes, haben inhaltlich aber so gut wie nichts mit ihm zu tun.
Die Mutter im Roman hütet nämlich ein Geheimnis, das hier nicht gelüftet werden soll, benimmt sich aber sonst wie viele Mütter in gesegnetem Alter: einfach kindisch. Am liebsten macht sie, was sie will, und isst dazu Knackwürstchen mit Kartoffelsalat. Ihrem erwachsenen Sohn, der ihren Tod fürchtet, begegnet sie dabei so übergriffig, wie es das Klischee einer jüdischen Mutter verlangt. Dabei beleuchtet der Roman das Privatleben von Otto Kadoke im Haus seiner Mutter abwechselnd mit seinem Arbeitsleben, in erster Linie in Form von absolvierten Nacht- und Notdiensten, die ihn zu ganz unterschiedlich auftretenden Selbstmordgefährdeten führen. Es sind verwirrte und verlorene Seelen, deren Leiden Grünberg ebenso wahrhaftig wie anteilnehmend schildert, nicht ohne manch einen spöttischen oder sarkastischen Seitenhieb auszuteilen.
Dabei erweist sich der neue Roman weitaus weniger handlungsgetrieben und plotverliebt als frühere. Vieles zögert Grünberg hinaus, manches gerät ihm diesmal auch einfach zu lang. Als Leser kommt man in die Position, dass man geradezu darauf wartet, dass sich bitte eine nächste, größere Katastrophe ereignen möge, doch sie ereignet sich diesmal nicht. Ganz im Gegenteil scheint der Autor geradezu besänftigt, denn ohne zu viel verraten zu wollen, entwickelt die Romanhandlung geradezu utopische Kraft.

Chlorreiniger saufen

Einer von Ottos Notfällen, die Borderlinerin Michette, die Chlorreiniger säuft wie Saft, springt als Pflegekraft für die Mutter ein. Dieser Einfall ist zu kitschig, um wahr zu sein. In seiner Zusammen-ist-man-weniger-allein-Seligkeit wirkt das obendrein zu schlicht, um einem großen Grünberg-Roman zu genügen.
Oder vielleicht doch nicht? Denn Grünberg nutzt ihn für eine ebenso zarte wie psychologisch ausgeklügelte Geschichte über das Lebensrecht aller Randständigen und ihre Existenzschmerzen. Dabei führt sich der Roman selbst auf wie ein Borderliner, indem er die Grenzen gefährlich auslotet, sich verausgabt, seine Mitte nicht findet, keinen stabilen Halt. Auch das absichtsvoll Obszöne passt ins Krankenbild wie auch ins Werk von Arnon Grünberg, der von ­jeher gern Tabus bricht und den guten Geschmack reformiert.
Der Titel des neuen Buchs bezieht sich auf das Mutter-Sohn-Verhältnis sowie auf die tatsächlichen Muttermale auf Otto Kadokes Rücken, die er sich entfernen lässt und sie danach ­Michette als Liebesgabe in einem Döschen überreicht. Das trifft nicht jedermanns Geschmack, bildet aber innerhalb des Buchs ein weiteres Indiz für die unendliche Weite des Normalen. In seinem großen Herzen ist dieser Roman nämlich ein verrücktes Plädoyer für die liberale offene Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die es schaffte, Alte, Kranke, Schräge, Bunte zuzulassen beziehungsweise so zu lassen, wie sie sind und sein mögen.
Was es dazu braucht? Toleranz und Lust an der Improvisation. Damit gesegnet ergeben sich alternative Lebensmodelle quasi von selbst. Zumindest bei Arnon Grünberg.