Arnon Grunberg
FM 4 ORF,
2003-09-21
2003-09-21, FM 4 ORF

Lesestoff: Phantomschmerz


Mari Lang

Teil 1: Harpo

"Als ich geboren wurde, hatte der Ruhm Robert G. Mehlmans seinen Höhepunkt erreicht. Er war mehr als ein großes Talent. Doch nach fünf Jahren war von diesem Ruhm nicht mehr viel übrig, meine Mutter verglich meinen Vater oft mit einem Strauß Rosen, der zu lange ohne Wasser in der Vase gestanden hat."

So beschreibt Harpo Saul Mehlman, Sohn des Schriftstellers Robert G. Mehlman, seinen Vater.

Im ersten Teil von 'Phantomschmerz' erzählt Harpo, wie er seinen Vater in Erinnerung hat, nämlich als einen Mann, der seine Zeit mit Briefeschreiben verbringt, anstatt große Romane zu veröffentlichen, der den Backofen zum Aufbewahren von Wörterbüchern verwendet oder der zu Familienfesten ganz selbstverständlich seine Geliebte mitnimmt.

Dass Robert Mehlman ein seltsamer Kauz ist, wird bereits nach den ersten gelesenen Seiten klar und auch, dass er von Treue nicht viel hält. Er betrügt seine Ehefrau mit einer puertoricanischen Kellnerin, die "die Frau des Busfahrers" ist und "dicke Beine" hat und mit Rebecca, die "eine Mata Hari unserer Zeit sein will" und die eigentlich "eine verhinderte femme fatale" ist. Vor allem Frauen sind es, die sein Leben bestimmten und klarerweise auch das Schreiben, als Mittel zum Zweck:

"Schreiben war natürlich das Mittel par excellence, nicht leben zu müssen und doch die Illusion zu wahren, mittendrin zu stehen, im Leben meine ich, in all seiner Wildheit daran teilzunehmen. Während man heimlich selbst die Strippen zieht."

Teil 2: Robert G. Mehlman

Im zweiten Teil des Buches bekommt der Leser den letzten Roman von Robert Mehlman vorgelegt. Der Titel: "Die hohle Nuss und andere Juwelen". Darin erzählt Mehlman in der Ich-Form vor allem von seinen drei Frauen, die er nur zu 'brauchen' scheint, um sich von seinem eigenen Innenleben abzulenken. Denn, so sehr er das Leben auch auskostet, ganz glücklich scheint er nicht zu sein. Einerseits liebt er das Leben, andererseits hasst er es auch: "Wenn ich in dem Moment sechzig Schlaftabletten hätte schlucken können, hätte ich das mit Freuden getan..."

Robert Mehlman scheint nie richtig erwachsen geworden zu sein. Obwohl er verheiratet ist und einen Sohn hat, übernimmt er keinerlei Verantwortung. Er stürzt sich gedankenlos in Schulden, um seinen Frauen schicke Kleider zu kaufen und in Limousinen durch die Gegend zu fahren. Seine Umwelt nimmt er nur wahr, um von ihr Gebrauch zu machen, um sie für seine Geschichten zu verwerten. Dabei geht er mit seinen Mitmenschen nicht gerade fein um: "je schlechter es ihnen ging, um so mehr Interesse konnte ich für sie aufbringen". Mit Lügen wurschtelt er sich durchs Leben, und es macht ihm sogar Spaß.

"Der Moment, in dem ich selbst an die von mir sorgfältig inszenierte Wirklichkeit zu glauben begann, war der Moment der Euphorie. Der Moment, wenn die Geschichte, die man sich ausgedacht hat, mit einem durchgeht. Wenn man den Eindruck hat, dass endlich jemand auf der anderen Seite des Schachbretts Platz genommen hat, dass man nicht mehr länger nur gegen sich selbst spielt. Dieser Moment, das ist der Moment der Euphorie."

Teil 3: "Wird es hier noch mal lustig?"

... fragt Robert Mehlman gegen Ende der Geschichte, die wieder aus der Sicht seines Sohnes Harpo erzählt ist.
Für den Leser hat der Witz eigentlich nie aufgehört, denn 'Phantomschmerz' ist in seiner Gesamtheit ein sehr unterhaltsamer Roman. Vor allem, weil vieles so banal beschrieben ist, dass man einfach schmunzeln muss; etwa wenn Mehlman erzählt, wie er seine Geliebte Rebecca zum ersten Mal küsst: so energisch "wie man Kloschüsseln saubermacht, die schon seit langer Zeit nicht gereinigt worden sind".

Aber 'Phantomschmerz' ist auch ein nachdenklicher Roman, der von einem lebenslangen Vater-Sohn-Konflikt erzählt, von Liebe und Hass, und von Unzufriedenheiten, deren Ursache einem verborgen bleibt. Von Letzterem leitet sich vielleicht auch der Titel ab, denn Phantomschmerzen sind in medizinischem Sinne, Schmerzen, die man in einem bereits amputierten Körperglied empfindet.