Arnon Grunberg
Neue Zürcher Zeitung,
2002-04-09
2002-04-09, Neue Zürcher Zeitung

Jagt-Szenen. Das umstrittene Début des Niederländers Marek van der Jagt


Dorothea Dieckmann

"Die niederländische Literatur kennt nur zwei Themen", formulierte vor Jahrzehnten der grosse Willem Frederick Hermans, "die Schule und den Krieg." Sein Roman "Die Dunkelkammer des Damokles" transzendierte schon 1958 die etablierte Behandlung der Kriegsthematik, die sich indes noch lange in der moralisch und emotional bequemen Darstellung von Widerstand, Leid und Opferrolle erschöpfte. Erst mit dem Generationenwechsel entstand eine subversivere Betrachtung des historischen Traumas; zugleich fokussierten die Jüngeren wieder das zweite übergeordnete Thema, die "Kindheitsmuster" in Schule und Familie - beispielhaft im sprachgewaltigen Romanzyklus "Die zahnlose Zeit" des 1951 geborenen Adrianus F. Th. van der Heijden.

Bei den Jüngsten dominiert also die autobiographische Spurensuche. Die meistzitierte Passage aus dem ersten Roman des 1971 geborenen jüdischen Autors Arnon Grünberg lautet: "Eine Idee von unserem Geschichtslehrer. Schnell mal Shoah gucken . . . Alle sassen da und schauten sich diesen sterbenslangweiligen Film an, und zuletzt brach sogar irgend so eine Tussi in Tränen aus . . . Beim nächsten Mal bin ich dann doch wieder weggeblieben." Lange nach dem Krieg verkörpern die Romane des relegierten Gymnasiasten und New-York-Auswanderers das Lebensgefühl einer von Hedonismus, Überdruss und vor allem Versagen bestimmten Jugend in der "moralfreien Zone" des postideologischen Zeitalters.

Die Geschichte meiner Kahlheit

Phänomen und Erfolg dieses Autors sind also durchaus Teil einer folgerichtigen Entwicklung, und so überrascht es nicht, dass sich kurz nach Grünbergs Eskapaden dreier scheiternder Lebenskünstler eine literarische Stimme ähnlichen Klangs erhob. Wie in Arnon Grünbergs Début der Antiheld "Arnon" ist Marek van der Jagts Antiheld "Marek van der Jagt" ein Schüler auf Abwegen, vornehmlich auf dem zur Liebe - die dem Erstling in der deutschen Übersetzung den Titel "Amour fou" (eigentlich: "Die Geschichte meiner Kahlheit") gibt. Der Erzähler rekapituliert seine pubertäre Suche nach der ultimativen Liebeserfüllung sowie das Dasein in einer ebenso reichen wie kaputten Familie, gipfelnd in einem doppelten Desaster: der erotischen Desillusionierung angesichts seines "Zwergenpenis" und dem Tod der schönen, verwirrten und nymphomanischen Mutter, an dem der Protagonist heimliche Schuld trägt.

Erzählt aus der Perspektive des 18-Jährigen, schildern die Stationen dieses negativen Entwicklungsromans eine missglückte Affäre mit zwei jungen Touristinnen (bei der er gegenüber seinem Bruder buchstäblich "den Kürzeren zieht"), die Konsultation eines Psychoanalytikers, den Besuch eines plastischen Chirurgen und die Begegnung mit einer älteren Barsängerin. Ihr verdankt der traurige Ritter nicht nur eine homöopathische Kur, die ihm statt einer Vergrösserung seines Gemächtes den Kahlschlag des Haupthaars beschert, sondern auch ein kurzes Liebesglück.

Die Stärke dieses unspektakulär-tragikomischen Buches - die stilistische Konsequenz, mit der das (leicht zum Gefühlskitsch tendierende) Genre des Bekenntnisses weniger ins existenziell Absurde als vielmehr ins Satirisch-Groteske getrieben wird - ist zugleich seine Schwäche. Eine zuweilen fast beckettsche Kombination von szenischer Präzision, emotionaler Sparsamkeit und Bedeutungsabstinenz wird durch sentenziöse Selbstkommentare zugespitzt, die den Versuch einer Sinngebung seinerseits ironisch aufheben: "Man durfte nicht nachlassen, solange man an der nutzlosen Erfindung teilhatte, die Leben hiess." Diesen Gestus überbietet noch die Komik der Charakterisierungen. Doch indem eine jugendliche (Ego-)Manie den klamaukhaften Plot zur negativen Lebensphilosophie aufbläht, wird dieser Stil zur Manier, und die "illusionslose" Selbstanalyse erreicht auf Umwegen eben die Larmoyanz, die sie vermeiden will.

Rätsel um die Identität des Autors

Komische Verzweiflung und sarkastische Selbststilisierung eines scheiternden jugendlichen Aussenseiters kennzeichnen die Parallelen zu Grünbergs Protagonisten; das jüdische Thema fehlt zwar, doch heisst es am Ende, dass sich anlässlich eines Streites um die Vaterschaft ein Schimpfwort des Papas, "Drecksjunge", ganz wie "Drecksjude" angehört habe. Über die Tatsache hinaus, dass dem Erzähler Marek auf diese Weise ein jüdischer Vater nahegelegt wird, wie ihn der Erzähler Arnon hat, geht es mittlerweile um die Frage der Identität der Autoren Arnon und Marek. Den Verdacht, es handele sich um ein und dieselbe Person, lancierte die Presse, als dem vorgeblich in Wien (dem Schauplatz von "Amour fou") lebenden van der Jagt just der Débutpreis vergeben wurde, den der mutmassliche Hintermann Grünberg sechs Jahre zuvor erhalten hatte. Van der Jagt selbst blieb der Verleihung fern.

Verlässlicher als die journalistische Recherche ist allemal das Textmaterial selbst, das auch den Juroren eine frappierende Verwandtschaft aufdrängte. Sie umfasst über Thematik und Erzählhaltung hinaus die absurde Lakonik der (scheinbar) teilnahmslosen sprachlichen Darstellung. Doch hier enden die Parallelen. Grünbergs Figur des renitenten Taugenichts mit der nihilistischen Attitüde steht in "Amour fou" ein unbeholfener Naiver mit der entlarvenden Altklugheit eines Simplizissimus gegenüber. Es ist also mehr als nur die Nachträglichkeit, die in van der Jagt einen öffentlichkeitsscheuen Epigonen vermuten lässt, der in Grünbergs sublim verhärteter Lebensklage ein Vorbild gefunden hat. Es sei denn, Grünberg hat den Juroren einen früheren unveröffentlichten Roman und wahren Erstling untergejubelt. In jedem Fall ein gelungener Schülerstreich mit Werbeeffekt: Entweder zehrt ein real existierender Neuautor von Grünbergs Ruhm oder Grünbergs Alter Ego vom Ruch des Skandals. Keine Besprechung des einen ohne Erwähnung des anderen - quod erat demonstrandum.