Arnon Grunberg
ZDF,
2002-06-06
2002-06-06, ZDF

Marek van der Jagt: "Amour fou"


Nicht nur der Roman "Amour fou" sorgte im holländischen Literaturbetrieb für Aufsehen, sondern auch das Rätsel um den Autor. Ein gewisser junger Marek van der Jagt gewann 2000 mit seinem Roman-Erstling "Amour fou" den renommierten niederländischen Anton-Wachter-Preis für das beste Debüt. Doch zur Preisverleihung erschien er nicht, sein Preisgeld hat er nie entgegengenommen.

Niemand hat ihn je gesehen, nie hat er ein Interview gegeben, nur ab und zu tauchte eine E-Mail von ihm auf. Ein einziges Foto kursierte von ihm und einige karge biografische Angaben. "Amour fou" avancierte in Holland zum Kultbuch, immer wieder spekulierte die Presse über die Identität des Autors. Eine vergleichende Textanalyse per Computer der Universität Rom enthüllte, dass nur der niederländische Erfolgs-Schriftsteller Arnon Grünberg "Amour fou" geschrieben haben könne. Im Mai 2002 gab dieser schließlich zu, dass er den Namen Marek van der Jagt als Pseudonym benutzt hat. Das Geheimnis war gelüftet.

Doppelt ausgezeichnet

Pikanterweise hatte der heute 31-jährige Grünberg schon 1994 für seinen ersten Roman "Blauer Montag" den Anton-Wachter-Preis gewonnen. Mit seinem Pseudonym Marek van der Jagt hat Arnon Grünberg also gleich doppelt bewiesen, dass er 'ausgezeichnet' schreiben kann. Doch warum hat er "Amour fou" unter einem anderen Namen veröffentlicht? "Meine zwei ersten Bücher haben sich in Holland sehr gut verkauft, und ich schreibe auch für einige Zeitungen. Ich wollte mich dem Kult um den Autor entziehen, wollte, dass man sich auf das Buch konzentriert, um das es ja eigentlich geht. Es interessierte mich auch, wie die Leser reagieren, wenn sie nicht wissen, das ist wieder ein Roman von Grünberg. Ich habe nicht geahnt, welche Ausmaße das dann annehmen würde. Am Anfang hat es mir noch Spaß gemacht, aber dann war ich irritiert, denn es ging dann wieder nicht um das Buch, sondern um die Frage: WER hat es geschrieben?"

Flucht in eine fixe Idee

Ebenso skurril wie die Geschichte um den Autor ist auch der Inhalt des Romans. Der Ich-Erzähler Marek lebt in Wien als Mitglied einer großbürgerlichen, wohlhabenden Familie voller exzentrischer Charaktere. Seine dominante Mutter, ehemalige Opernsängerin, ist eine leidenschaftliche Femme fatale, der die Männer Wiens zu Füßen liegen. Sie, der Vater und auch die beiden Brüder "dienen dem einsamen Gott des Erfolgs", nur der schüchterne, etwas naive Marek flüchtet in eine Phantasiewelt. Er möchte seinem kühlen Zuhause entkommen ("Wenn Menschen Bücher sind, dann war Papa ein Knigge in mindestens sieben Bänden") und ein berühmter Dichter werden, schreibt hermetische Gedichte im Stil Paul Celans. Mitten in der Pubertät, angeregt durch einen französischen Roman, beschließt er, dass nur Liebe bis zum Wahnsinn, die Amour fou, seine Berufung sei. Quer durch Wien spürt der Junge dieser fixen Idee nach, kann endlich zwei Touristinnen zu einer gemeinsamen Nacht bewegen.

Der Penis eines Zwergs

Doch schon der erste Versuch endet für ihn mit einem Schock: Die Mädchen konfrontieren ihn mit der niederschmetternden Tatsache, dass sein Glied von zwergenhafter Winzigkeit ist! Gegenüber seinem Bruder hat Marek buchstäblich den Kürzeren gezogen: "Ich warf einen kurzen Blick auf Pavels Geschlecht. Als vergleiche man eine zwanzigteilige Enzyklopädie mit einem Stück Toilettenpapier. Zwar beide aus dem gleichen Material, aber da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf... 'Denkst du wirklich, dass ich krank bin?' 'Nein', sagte Pavel, 'nicht krank. Nur behindert.' 'Aha', sagte ich. Wenn das Leben ein Beruf ist, wollte ich kündigen." Der erotisch desillusionierte Held gerät in Penis-Panik, ein absurdes Abenteuer jagt das nächste. Kein Psychiater, kein plastischer Chirurg kann helfen. Zu seinem körperlichen Handicap kommt eine fatale mentale Disposition: Zwar träumt er von feuriger Liebe, aber sein Grüblertum steht einer ernst zu nehmenden Romanze im Weg. Tapfer durchläuft Marek alle Phasen der Erniedrigung und findet am Ende eine überraschende, ganz persönliche Variante der Amour fou.

Die Macht einer Obsession

Der Roman hat überschäumenden Witz und viel Sinn für die Absurditäten des Alltags. Psychologisch einfühlsam, nie sentimental, sondern lakonisch reflektiert Grünberg über die Probleme des Erwachsenwerdens, männliche Versagensängste, über die Suche nach Liebe und liefert obendrein noch eine Satire auf Familien- und Beziehungskisten. Ein echtes Lesevergnügen: leicht und virtuos geschrieben, tragikomisch, bissig und scharfsichtig zugleich. "Wem das übertrieben in den Ohren klingt, der hat noch nie die Macht einer Obsession erlebt. Eine Obsession verschlingt alles: die Welt, die Realität, die Menschen, bis nur noch ein einziges kleines Detail übrigbleibt, das tausend-, ja vielleicht zehntausendmal vergrößert wird, und dieses kleine Detail erobert deinen Kopf im Blitzkrieg und füllt ihn aus, bis es die ganze Welt geworden ist. Meine Welt war der Penis eines Zwergs."