Arnon Grunberg
Frankfurter Allgemeine Zeitung,
2006-03-18
2006-03-18, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Äffchen mit Lostrommel. Arnon Grünbergs Roman "Gnadenfrist"


Martin Halter

Grünberg bezieht sich auf das Geiseldrama von 1996/97, das Präsident Fujimori mit einem Massaker beenden ließ. Malena bleibt verschwunden, Warnkes Gnadenfrist ist abgelaufen: Der Diplomat wird seine Stelle und noch mehr verlieren.
Warnke hat Malena geliebt, wie ein gewissenhafter Botschaftsangestellter, dem alle Abenteuer, Ideale und Ideologien suspekt sind, nur lieben kann; ihretwegen hat er sogar begonnen, Gedichte zu schreiben. Jetzt ist ihm der Rückweg ins Idyll verstellt, und der blinde Narr büßt seinen Irrtum bis zur letzten Konsequenz. Er verschmäht die goldenen Brücken, die Den Haag ihm baut, zerfetzt das Kuscheltier seiner Frau und verläßt seine Kinder, um sich in Kirchen und Tramperabsteigen herumzutreiben und von Straßenjungen ausrauben zu lassen. Willenlos und doch seltsam hochgestimmt, taumelt er in einen Abgrund aus Verwahrlosung, Wut und ekstatischer Verzweiflung. Am Ende wird er sich einen Sprengstoffgürtel umschnallen und zum Amokläufer aus Haß und Liebe werden: „Das ist für mein Chunquituy."
Arnon Grünberg gibt keine Erklärungen für das Unbegreifliche, weder politische Rechtfertigungen noch psychologische Begründungen. Mit lakonischer Kälte, hie und da gemildert durch sanfte Ironie und absurden Humor, schildert er den Höllensturz eines arrivierten Diplomaten. Im Nachwort, seinem Bericht über eine Lima-Reise, heißt es: „Was Menschen tun, tun sie aus Sehnsucht nach einem besseren Leben, doch da beginnt das Problem, denn ich glaube an wenig. Nicht an ein Haus, das man sich einrichten muß, nicht an die Ehe, nicht an einen Ort, von dem sich sagen läßt: Hierher gehöre ich, nicht an Familie, Vaterland, Freundschaft. Was ich mit

Ein Mann ohne Eigenschaften und Meinungen, der dann auch noch Jean Baptist Warnke heißt, kann eigentlich nur die diplomatische Laufbahn einschlagen. Warnke ist zweiter Mann der niederländischen Botschaft in Lima, ein idealer Posten für ihn. Der alte Botschafter kümmert sich mehr um sein Gärtchen und seine Vitaminpräparate als um Politik; zum Aufgabengebiet Warnkes gehören die Vorbereitung der Grillparty zu Ehren des holländischen Außenministers, Cocktailpartys und hin und wieder eine Dienstreise zur Ananas-Musterplantage ehemaliger Kokabauern. „Het aapje dat geluk pakt" hieß Arnon Grünbergs Roman im Original: Warnke fühlt sich wie das Äffchen, das auf den Straßen von Lima Glückslose zieht. „Gemütlich und zeitlos, so fühlt es sich an, in einem Irrtum zu leben. Es kann immer so bleiben, es braucht nie aufzuhören."
Daß Warnke im Irrtum lebt, zeigt sich zunächst nur an kleinen Irritationen. Er hört manchmal Geräusche und träumt von einem Amoklauf gegen Frau, Kinder und Freunde. Aus der Bahn geworfen aber wird der glückliche Spießer erst durch seine Begegnung mit einer jungen Peruanerin. Warnke ist viel zu naiv, um Malenas Zutraulichkeit zu mißtrauen. Nicht einmal als sie ihm Päckchen für die Diplomatenpost mitgibt und auf einem „Liederabend" in einem verrufenen Vorort ihre merkwürdigen Freunde vorstellt, schöpft er Verdacht. Erst als Malena ihrem „Chunquituy", ihrem „Schätzchen", beiläufig abrät, den Neujahrsempfang in der japanischen Botschaft zu besuchen, geht ihm langsam ein Licht auf: Wenig später sieht Warnke im Fernsehen „Tupac-Amaru"-Terroristen in die japanische Botschaft eindringen:


anderen Menschen teile - und das sind die flüchtigen Momente, in denen ich die Menschen nicht als Schatten wahrgenommen habe, sondern als elegant geformte Klumpen Fleisch -, ist Verzweiflung."
Es gibt keine „normalen Menschen", nur Patienten, erfolgreiche, die sich auf Kosten anderer über Wasser halten, und weniger erfolgreiche, die auf eigene Faust untergehen. Was für Malcolm Lowrys Konsul aus „Unter dem Vulkan" der Alkohol und für Graham Greenes Diplomaten Gott, ist für Warnke die unverhoffte Gnade der Liebe: ein metaphysischer Unfall, der ihn allen sozialen, politischen und privaten Beziehungen entfremdet, zum menschlichen Wrack und Selbstmordattentäter macht - und seinem Leben erstmals Sinn gibt.
Grünberg galt bisher als eine Art Amsterdamer Woody Allen, der, ähnlich wie sein Landsmann Leon de Winter, mit jüdischem Witz und grimmigem Behagen die Neurosen, Alltagskatastrophen und erotischen Verwirrungen einer aus den Fugen geratenen Welt aufspürte. In „Der Vogel ist krank" schilderte er die groteske Dreiecksbeziehung zwischen einem resignierten Zyniker, seiner Freundin und einem dreisten Asylbewerber; unter dem Pseudonym Marek van der Jagt hat er die Abgründe von „Amour fou" und der globalen Liebesunordnung noch anarchischer und obszöner ausgeleuchtet. Mit „Gnadenfrist" ist ihm jetzt ein Roman gelungen, der beeindruckt und überzeugt - bis auf den Schluß, denn das falsche Idyll wird zu plötzlich und plakativ in die Luft gesprengt. Aber wie der vierunddreißigjährige Shooting-Star der niederländischen Literatur leichthändig und dabei erschreckend ungerührt eine Tragikomödie diplomatischer Souveränität, bürgerlichen Glücks und westlicher Arroganz im Hexenkessel von Lima erzählt, das macht ihm so schnell niemand nach.