Arnon Grunberg
Tages-Anzeiger,
2006-02-16
2006-02-16, Tages-Anzeiger

Was Menschen tun, tun sie aus Sehnsucht


Martin Halter

Das macht alles nur der Zauber von Malena: Arnon Grünberg erzählt in seinem neuen Roman «Gnadenfrist» vom Abstieg eines Diplomaten in die Abgründe des Terrorismus.

Wer Jean Baptist Warnke heisst, kann eigentlich nur Diplomat werden. Tatsächlich ist Warnke zweiter Mann der niederländischen Botschaft in Lima, ein idealer Posten für einen Mann ohne Eigenschaften und Meinungen wie ihn: Das Leben ist beschaulich und komfortabel, der Botschafter ist mehr an Tulpenzwiebeln und Vitaminpräparaten als an Politik interessiert. «Aufmuntern, trösten, schweigen und eine gute Intuition für taktische Versöhnungen» sind alles, was man für Cocktailempfänge und gepflegten Kulturaustausch braucht.

Warnke kümmert sich um die Ananasplantagen ehemaliger Kokabauern, aussterbende Indiosprachen und die Grillparty zu Ehren des holländischen Aussenministers; er trennt seinen Müll und liebt Frau und Kinder. Nur wenige Indizien - eine leichte Nervosität, ein Eclat beim Nikolausspiel, beunruhigende Tötungsfantasien - deuten darauf hin, dass er doch nicht das Glücksäffchen («Het aapje dat geluk pakt» heisst der Roman im Original) ist, das auf den Strassen von Lima seine Kunststücke vorführt. «Gemütlich und zeitlos, so fühlt es sich an, in einem Irrtum zu leben. Es kann immer so bleiben, es braucht nie aufzuhören.»
Warnke wird aus seinem Spiesseridyll ausbrechen, aus der Bahn geworfen durch eine junge Peruanerin. Malena ist ihm auf Anhieb sympathisch, der Verehrer viel zu naiv und geschmeichelt, um ihr Geheimnis zu wittern. Er schöpft nicht einmal dann Verdacht, als er für sie Päckchen mit Diplomatenpost verschicken soll und auf einem «Liederabend» in einem verrufenen Bezirk von Lima ihren merkwürdigen Gesangsverein kennen lernt.

Erst als Malena ihrem «Chunquituy» (Schätzchen) beiläufig davon abrät, den Neujahrsempfang in der japanischen Botschaft zu besuchen, und er wenig später im Fernsehen die Bilder vermummter Terroristen sieht (Grünberg bezieht sich auf das von Präsident Fujimori brutal niedergeschlagene Geiseldrama von 1996/97), geht ihm ein Licht auf. Der Diplomat, der sich immer nur heraushalten wollte, sieht sich in eine Staatsaffäre verwickelt, die ihn sein Amt, seine Familie und sein Leben kosten wird.

Kein Weg zurück

Warnke hat Malena geliebt, wie ein Mann, dem alle Abenteuer, Ideale und Ideologien suspekt sind, nur lieben kann; ihretwegen begann er sogar, Gedichte zu schreiben. Jetzt führt kein Weg mehr zurück: Der heilige Narr büsst seinen Irrtum wie ein Held von Dostojewski. Er verschmäht die goldenen Brücken, die man ihm diskret bauen will, er zerfetzt das Kuscheltier seiner Frau und verlässt seine Familie, um sich in Kirchen und Tramperabsteigen herumzutreiben. Wehr- und willenlos taumelt er in einen Abgrund aus Verwahrlosung, wildem Hass und ekstatischer Verzweiflung; am Ende wird er einen Sprengstoffgürtel zünden: «Das ist für mein Chunquituy.»

Die Liebe als metaphysischer Unfall

Grünberg gibt keine Erklärungen für das Unbegreifliche. Mit lakonischer Kälte, nur hie und da gemildert durch leise Ironie und sanften Hohn, schildert er die Verwandlung eines arrivierten Diplomaten in einen Terroristen aus Liebe. «Was Menschen tun», schreibt er in seinem - als Nachwort beigegebenen - Bericht über eine Lima-Reise, «tun sie aus Sehnsucht nach einem besseren Leben, doch da beginnt das Problem, denn ich glaube an wenig. Nicht an ein Haus, das man sich einrichten muss, nicht an die Ehe, nicht an einen Ort, von dem sich sagen lässt: Hierher gehöre ich, nicht an Familie, Vaterland, Freundschaft. Was ich mit anderen Menschen teile - und das sind die flüchtigen Momente, in denen ich die Menschen nicht als Schatten wahrgenommen habe, sondern als elegant geformte Klumpen Fleisch -, ist Verzweiflung.»

«Gnadenfrist» ist ein Dokument dieser zu Stein und Eis erstarrten Verzweiflung, die sich jeder rationalen Rechtfertigung und psychologischen Motivation entzieht. Der Schluss ist wenig überzeugend; aber wie Grünberg den Verfall diplomatischer Souveränität, bürgerlichen Glücks und westlicher Arroganz im Hexenkessel von Lima schildert, macht seine schmale Erzählung zu einem kleinen Meisterwerk. Was für Malcolm Lowrys Konsul («Unter dem Vulkan») der Alkohol und für Graham Greenes Diplomaten Gott, ist für Jean Baptist Warnke die unverhoffte Liebe einer Studentin: ein metaphysischer Unfall, der ihn allen Beziehungen entfremdet, zum menschlichen Wrack und Selbstmordattentäter macht - und doch seinem Leben erstmals Sinn gibt.

Grünberg galt bisher als eine Art Amsterdamer Woody Allen. Ähnlich wie sein Landsmann Leon de Winter spiesst er mit jüdischem Witz und grimmigem Behagen die Neurosen, Alltagskatastrophen und erotischen Verwirrungen einer aus den Fugen geratenen Welt auf. Mit «Gnadenfrist» ist der 34-Jährige in dunklere Bezirke der Seele und damit endgültig in die vorderste Reihe der holländischen Gegenwartsautoren vorgestossen.