Arnon Grunberg
Die Welt,
2006-04-30
2006-04-30, Die Welt

Aus dem Bordell in die Bestsellerlisten


Susanne Kunckel

Der Mann lebt gemütlich. Als zweiter Botschafter der Niederlande in Lima flaniert Jean Baptist Warnke von Empfang zu Empfang, vermeidet jede Herausforderung und beschließt seine geruhsamen Arbeitstage mit einem Gläschen Riesling. Auch zu Hause, bei der gertenschlanken Ehefrau und den zwei kleinen Kindern, läuft alles bestens. Eine Zufriedenheit, die beinahe etwas Anstößiges hat: "Manchmal ist alles so furchtbar schön, daß Warnke sich vorstellte, wie er seine Töchter ersäuft."
Doch dann bricht die attraktive peruanische Studentin Malena wie eine Naturgewalt in die Lethargie seiner täglichen Cafépause ein. Anfangs findet Warnke seine Erregung "lächerlich armselig". Schnell aber gerät die geordnete Diplomatenwelt völlig aus den Fugen ...
Arnon Grünberg, einer der erfolgreichsten niederländischen Autoren der jüngeren Generation, ist Spezialist für lädierte Männer und vertrackte Liebesfälle. Der Sohn deutsch-jüdischer Eltern wuchs in Holland auf. Mit 15 flog er vom Gymnasium, bewarb sich an Schauspielschulen, bekam ein paar unbedeutende Rollen und gründete einen Literaturverlag, mit dem er nach einigen Monaten pleite ging. Anschließend trieb er sich in Amsterdamer Bordellen herum, betrank sich bis zur Bewußtlosigkeit und hatte keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Bis ihm ein Lektor den Rat gab, seine Turbulenzen einfach aufzuschreiben.
Heute ist Arnon Grünberg 35, lebt meistens in New York und hat mehr als ein Dutzend Bücher geschrieben: Erzählungen und sieben Romane, wie "Phantomschmerz" oder "Der Vogel ist krank". Mit Witz, Tempo und Tiefgang seziert er Verklemmungen, Verdrängungen und Selbstbetrug seiner Helden, katapultiert sie aus friedlichem Stillstand ins Chaos. Grünbergs Sprache ist lakonisch, seine Ironie subtil und bissig. Versiert spielt er mit Klischees, verpackt Hilflosigkeit in Slapstick.
Seine Schreibmotivation hat er etwas pathetisch auf den Punkt gebracht: "Was ich mit anderen teile, ist Verzweiflung. Was ich bei anderen suche, ist Verzweiflung. So wie der Goldsucher Gold."
Lange galt Grünberg, der unter dem Pseudonym Marek van der Jagt schrillere Varianten seiner Themen fabrizierte, als Wunderknabe der niederländischen Literatur. Inzwischen ist er in der ersten Liga angekommen. Ähnlich wie sein amerikanischer Kollege Jonathan Safran Foer. Mit ihm teilt Grünberg das enorme Schreibtempo und die Ironie, gewichtige Themen und rasante Pointen.
Dem liebestollen Diplomaten in seinem neuem Roman "Gnadenfrist" entgleitet am Ende sein Leben. Er verfällt der Peruanerin, die ihm seine verborgensten Wünsche erfüllt. Blind für die Realität, begleitet er sie auf dubiose Partys, wird schließlich lachend von ihr gewarnt, einen Empfang der japanischen Botschaft in Lima zu besuchen. Wenig später überfallen Angehörige der peruanischen Guerilla-Organisation Tupac Amaru die Botschaft und nehmen 500 Geiseln. Die schöne Studentin ist verschwunden, der von ihr besessene Diplomat gerät in einen Strudel von Mißtrauen, Verzweiflung und Verbrechen. Die Geiselnahme in Lima hat 1996 tatsächlich stattgefunden. Für Grünberg aber liefert sie nur die Kulisse für den seelischen und moralischen Verfall seines Helden, den er voll Mitgefühl und Witz auf seinem Höllentrip begleitet.
Niederländische Autoren haben offenbar ein Faible für defekte Diplomaten. Leon de Winter ließ in seinem originellsten Roman "Hoffmans Hunger" einen freßsüchtigen und schlaflosen Botschafter in den Armen einer Agentin tragikomisch aufblühen und scheitern. Arnon Grünbergs Biedermann wird am Ende zum Brandstifter.