Arnon Grunberg
Kritische Ausgabe,
2008-07-15
2008-07-15, Kritische Ausgabe

Sechs Jahre, vier Monate, zwei Wochen und ein Tag


Katja Moses

Große grüne Wassermelonen, als Erfrischung aus dem Kühlschrank, man schätzt sie besonders im Sommer. Wassermelonen kommen zum Beispiel aus Mexiko und werden von dort mit dem LKW in die USA transportiert. Auf diesem Wege gelangten auch Arnon Grünbergs Helden Paul und Tito Andino in die Vereinigten Staaten. Unter Wassermelonen versteckt wurden die beiden zusammen mit ihrer Mutter von einem Schlepper in die USA geschleust. Seitdem lebt die kleine Familie in New York, der Stadt, die für viele Einwanderer noch immer das Tor zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist. Und so suchen auch Paul und Tito Andino nach einer Möglichkeit, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden, und hoffen dabei auf die Hilfe des Heiligen Antonio, jenes »Heiligen des Unmöglichen«.

Die beiden Protagonisten versuchen, sich als Fahrradkuriere eines mexikanischen Restaurants durch den Großstadtdschungel zu schlagen. Gemeinsam berichten sie von ihrem Leben im Big Apple: »Das hier sind die ersten Worte, die wir auf englisch schreiben«, heißt es zu Beginn der Erzählung. Das größte Ziel von Paul und Tito ist es, Englisch zu lernen, denn sie »wollen hierbleiben und einen amerikanischen Paß und eine Aussprache, an der uns keiner erkennt«. Doch Paul und Tito sind noch keine Amerikaner, sie sind illegale Einwanderer und weit entfernt von ihrem Traum. Grünbergs Erzählung beschreibt jene, die noch nicht in jener Glitzerwelt angekommen sind, die man aus »Sex and the City« und den Hochglanzzeitschriften kennt. Zwar haben die beiden zusammen mit ihrer Mutter die Landesgrenzen überschritten, aber die gesellschaftlichen Schranken sind noch längst nicht überwunden.

Die Mutter der beiden, Raffaella Andino, arbeitet in einem Coffeeshop. Das Geld, das sie dort verdient, reicht kaum aus, um die kleine Familie zu ernähren. Nur mit Hilfe ihrer ›Verehrer‹, die sie im Coffeeshop kennen lernt, kann sie regelmäßig die Miete zahlen und den Kühlschrank füllen. Selbst ein Teil der Möbel stammt von den verschiedenen Männern: »Ohne Verehrer hätten wir keinen Garderobenständer« Raffaella verdrängt ihre eigenen Wünsche und Hoffnungen, um den Männern zu gefallen. An die Liebe glaubt sie schon lange nicht mehr: »Raffaella sagt, es gibt nur eine große Liebe im Leben, danach sind alle anderen nur Kopien dieser einen. Und je älter man wird, desto schlechter die Kopie.«

Einer ihrer so genannten Verehrer ist Ewald Stanislas Krieg, ein Autor, der so viel Geld zu besitzen scheint, dass er Raffaella die ganze Welt verspricht. Er ist der erste, in den sich Raffaella seit langem verliebt, und eine Weile scheint es, dass in diesem Land mit Ewalds Hilfe tatsächlich alles möglich ist. Zusammen gründen die beiden »Mama Burrito«, einen mexikanischen Fastfood-Lieferdienst. Ewald kauft die Zutaten und das Zubehör, Berge von Lebensmitteln und Pappschachteln stapeln sich bald in der kleinen Wohnung. Raffaella ist für die Küche zuständig. »Mama Burrito ist nicht einfach nur ein Burrito. Er ist ein Traum, die Hoffnung auf ein besseres Leben.« Doch dieser Traum zerplatzt und Raffaellas Verliebtheit endet jäh, als das Gesundheitsamt alle Zutaten und Geräte beschlagnahmt und sie einsehen muss, dass sie und ihr Geschäft für Ewald nur ein Zeitvertreib waren. Es interessiert ihn nicht, dass Raffaella nun nicht weiß, wie sie für ihren Lebensunterhalt aufkommen soll. Paul und Tito hingegen haben bereits begriffen: »Man darf anderen Leuten nicht die Regie für das eigene Leben überlassen«.

In der Sprachschule, wo Paul und Tito Englisch lernen, begegnet ihnen Kristin aus Kroatien. Kristin ist »frisch vom Boot«, was bedeutet, dass sie gerade erst eingewandert ist. Die Kroatin verdient sich ihren Lebensunterhalt als Prostituierte und die beiden Jungs sind völlig fasziniert von ihr. Sie beschließen deshalb: »Sie soll alles mit uns machen. Das volle Programm« und »Wir wollen endlich alles erleben«. So ist Kristin die erste Frau, in die sich die beiden Brüder verlieben. Doch Kristin fühlt sich in der amerikanischen Gesellschaft fehl am Platz: »Das hier ist nicht mein Leben, warum sollte ich mir aus irgendwem was machen? Mein Leben muss noch kommen«. Von der Überzeugung getrieben, dass ihr das Leben nichts mehr zu bieten hat, zieht Kristin eine drastische Konsequenz: Sie tötet einen Mann mit 42 Messerstichen und verlangt für sich die Todesstrafe. Sie macht es Paul und Tito zur Aufgabe, allen von ihr zu erzählen, um sie in Erinnerung zu behalten: »Sie war so schön, daß die Leute zu Boden fielen wie Äpfel von den Bäumen, so schön, daß sie ihren Augen nicht trauten«.

Im Grunde sind alle Figuren einsam, die meisten haben resigniert. Die Frauen der Erzählung sind von ihrem Leben desillusioniert und erwarten nicht mehr viel. Ewald ist zwar reich, aber auch sehr einsam. Er versucht, mit Geld der Gleichgültigkeit zu entfliehen und so ein bisschen Glück zu finden, doch es gelingt ihm nicht. Nur Tito und Paul haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Sie beten zum Heiligen Antonio, dass dieses Leben das richtige sein möge, ihr Leben, das sie sich so vorstellen: »Irgendwann wohnen wir in einer Villa mit Aussicht aufs Meer. Und einem Garten, so groß, daß man sich drin verlaufen kann und verhungern.«

Arnon Grünberg schafft es immer wieder, authentische Figuren zu beschreiben, trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Schrullen und Macken. Gescheiterte Existenzen sind geradezu ein Markenzeichen des Autors. Der typische Grünberg-Ton schwankt dabei zwischen witziger Ironie und hoffnungsloser Traurigkeit, so dass dem Leser oftmals das Lachen im Halse stecken bleibt. Mit seiner temporeichen Sprache gelingt es dem Autor darüber hinaus, dass man die Großstadt New York regelrecht vor sich sieht, mit ihren Wolkenkratzern, Straßenschluchten und Menschenmengen.

Am Ende der Erzählung machen sich Raffaella, Paul und Tito auf den Weg in den Westen. Sechs Jahre, vier Monate, zwei Wochen und einen Tag nach ihrer Ankunft kehren sie New York den Rücken zu, für einen weiteren Neuanfang an wieder einem anderen Ort.