Arnon Grunberg
Frankfurter Rundschau,
2011-03-08
2011-03-08, Frankfurter Rundschau

Der Swimmingpool-Eichmann


Sven Hanuschek

Arnon Grünbergs Roman "Mitgenommen" ist einerseits die durchaus kurzweilige Geschichte eines autoritären Charakters. Andererseits geht es darum, was ein Mensch, ein Mädchen, alles aushalten kann und zu welchem Preis.

Ein schlafender Mann wird von eindringenden Soldaten geweckt, greift nach seiner Brille und wird erschossen, weil einer der Soldaten sich vor der Brille auf dem Nachtkästchen gefürchtet hat – es hätte ja eine Waffe sein können. Auch die schlafende Ehefrau wird getroffen; sie lebt noch, der Major, der den Einsatz leitet, lässt sie ebenfalls erschießen. Die zehnjährige Tochter Lina weint im Erdgeschoss, Major Anthony, der kein Kind zeugen kann, rettet sie, indem er sie mit zu sich nach Hause nimmt. Vielleicht kann er so doch eine glückliche Familie nach seinen Vorstellungen schaffen, „ein Mann, eine Frau, ein Swimmingpool und ein Kind“.

Mit dieser grausam-grotesken Szene beginnt Arnon Grünbergs jüngster Roman „Mitgenommen“, fast alles, was auf den knapp 750 Seiten entfaltet wird, ergibt sich aus ihr. Das Mädchen ist traumatisiert, die Ehefrau hysterisch; sie wollte zwar immer ein Kind, aber ein eigenes, Liebe, meint sie, lässt sich nicht kommandieren. Der Mann fühlt sich schuldig, weil er ein Kind gerettet hat, statt es den Behörden zu überlassen. Er verschwindet mit einem selbst angezettelten Himmelfahrtskommando, sein Trupp ist großenteils von Minen zerfetzt worden.

Studie eines Mörders

Die verbleibenden knapp 300 Seiten sind dem weiteren Schicksal des Mädchens gewidmet; Lina überlebt mit Straßenkindern, bei den Rebellen in den Bergen, arbeitet im Bergwerk, lernt schießen, wird von einem demagogischen Revolutionsführer „entdeckt“ und erneut mitgenommen. Sie erstickt ihr Kind, das sie von ihm hat, als sie sich mit anderen Frauen, dicht an dicht, in einem Keller vor den Schergen verstecken muss, ein Unfall, der noch ihre letzten Emotionen zerstört. Das Schlusskapitel zeigt sie als abgebrühte Waffenhändlerin, auf andere Weise so kalt und mörderisch wie ihr kurzzeitiger Pflegevater Anthony, wenn auch äußerlich erfolgreicher als dieser.

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Einsamkeit muss nicht gefüttert werden Grünberg hat eine Zeit lang als Journalist im Irak und in Afghanistan recherchieren können, er hat sich von den Verschwundenen in Argentinien, den Guerillas in Peru und den Bergwerken in Bolivien anregen lassen und mit Offizieren sprechen können. Dennoch ist die Situierung seiner Geschichte zweitrangig, es ist eben eine blutige Diktatur in Südamerika, die sich im Bürgerkrieg befindet, in der die Militärs Operetten-Dienstgrade haben und beide Konfliktparteien Verlierer sind.

Zur guten Hälfte ist der Roman die Studie eines durchschnittlichen Mörders, der tut, was von ihm verlangt wird, und der ein paar eigene dumpfe Ideen hat. Die einfache Sprache, in der seine Gedankengänge erzählt werden, entwickelt ihren Sog – klebrige Gedanken von Familienglück, Gehorsam und seinem Swimmingpool, über den er sich definiert. Er ist überzeugt, er führe eine gute Ehe, seit er den Pool hat bauen lassen; selbst „wenn er nicht mehr ist, wird der Swimmingpool bleiben“. Es ist überdeutlich, dass Anthony verkümmerte Gefühle hat und sich vor den Rebellen verteidigt, er habe schließlich nur die Oppositionellen in die Gefängnisse gebracht, als Befehlsempfänger, mit allem weiteren habe er nichts zu tun gehabt. „Im Grunde habe ich ein Transportunternehmen geleitet“, ein Satz, der aus anderen Zusammenhängen vertraut ist, wie auch die Selbstbeschreibung des Täters als „sachlich“, nicht „grausam“. Wie Eichmann wird Anthony zum Tode verurteilt, hier aber zum Tode durch Vergessen. Nach dem Tribunal wird er in einen Brunnen hinabgelassen, wo er verhungert.

Nach dieser durchaus kurzweiligen Geschichte eines autoritären Charakters verfolgt Grünberg, was ein Mensch alles aushalten kann und zu welchem Preis. Wie überlebt ein Mädchen eine solche Geschichte, wie tot ist sie innerlich, nach Jahren des „Mitgenommenwerdens“? Störend ist weniger die Zweiteilung des Romans als vielmehr seine Sprache. Die Innensicht des Majors ist nicht vom Fortgang der Geschichte abgesetzt; auch Linas Gedanken, die Gedanken der Offizierswitwe, der Haushälterin werden in der gleichen kargen, fließenden, leicht zu lesenden Sprache vorgebracht.

Das unausgesprochene Ziel des Romans: Grauen und Lächerlichkeit zu erzeugen

Reizvoll bleibt Grünbergs Fantasie, die außer dem Pool viele weitere groteske Nebenfiguren und Details hervorgebracht hat, auch sie aber vor allem in der ersten Hälfte: Der Major wischt dem weinenden Kind mit einem Taschentuch übers Gesicht, „wie über eine Autoscheibe, die gereinigt werden muss“, schließlich sei er dafür nicht ausgebildet. Es gibt einen Generalleutnant, eine Karikatur wie Kubricks General Turgidson in „Dr. Strangelove“, der mit Anthonys Frau oral verkehrt, dabei lautstark verkündet, wie er sie befruchten wird, wenn der Krieg vorbei ist; er verweigert ihr aber Kind und Befriedigung und spritzt lieber auf die Duschhaube. Als Einlage wird ein Szenario à la „Warten auf Godot“ geliefert aus der Zeit, als der Major noch einfacher Soldat war und monatelang in den Bergen auf Ablösung warten musste, bis er das Warten auf das Leben genauso interessant fand wie das Leben selbst.

Grauen und Lächerlichkeit zu erzeugen, das unausgesprochene Ziel des Romans, ist am ehesten konsequent im Motiv des „Onkels“ durchgeführt, El Tío, der Gott der bolivianischen Minen. Eine menschengroße Puppe ersetzt Gott, die Bergleute spenden ihr Schnaps und Zigaretten, damit sie nett zu ihnen ist und sie noch ein paar Goldkörner finden lässt. Sonst kann sich der Onkel auch grausam zeigen und sich von Menschenblut ernähren. Im Niederländischen heißt der Roman „Unser Onkel“; vielleicht heißt er im Deutschen anders, weil hier der Große Onkel für den großen Zeh stehen kann, womöglich wäre aber gerade der die passende Assoziation zu den Volksgöttern des Romans gewesen.