Arnon Grunberg
Badische Zeitung,
2011-03-05
2011-03-05, Badische Zeitung

Südamerika-Roman Mitgenommen: Der Minengott und das Mädchen


Katrin Hillgruber

Als Schriftsteller braucht man die Wirklichkeit, das ist wie eine frische Dusche", sagt Arnon Grünberg: "Man muss rausgehen und Leuten begegnen, die man nie auf einer Lesung trifft oder bei Schriftstellerkonferenzen. Hauptsächlich schreibe ich Romane, aber ab und zu möchte ich auch etwas anderes machen." Arnon Grünberg ist ein Phänomen. Zwanzig Bücher hat der 39-Jährige seit seinem Debüt "Blauer Montag" von 1994 bereits veröffentlicht, einige wie "Amour fou" unter dem Pseudonym Marek van der Jagst. Der gebürtige Amsterdamer schreibt außerdem Kolumnen und Essays und war mehrfach mit der niederländischen Armee als Berichterstatter in den Krisengebieten dieser Welt unterwegs – von Guantanamo bis Afghanistan.

Seit fünfzehn Jahren ist New York seine Wahlheimat, was ihm eine produktive Distanz zu Europa verschafft, wie er sagt. Mit seinem neuen Buch "Mitgenommen" ("Onze Oom") begibt sich Grünberg, ein Spezialist für neurotische Charaktere, tief in die Hirnwindungen eines Majors in einem fiktiven südamerikanischen Land. Der Roman setzt mit einem Paukenschlag ein: "Der Mörder von Lina Siñani Huancas Eltern konnte selbst keine Kinder zeugen, darum beschloss er, Lina Siñani Huanca zu adoptieren."

Arnon Grünberg hatte das Schicksal der argentinischen Desaparecidos im Sinn: Das sind jene Kinder, die während der Militärdiktatur von Angehörigen der Junta ihren politisch missliebigen Eltern geraubt und zwangsadoptiert wurden. Viele von ihnen verloren dadurch ihre Identität, worunter sie bis heute leiden. "Es ist in Argentinien tatsächlich vorgefallen, dass man vom Mörder der eigenen Eltern adoptiert wurde", sagt Arnon Grünberg: "Das ist eine völlig schizophrene Situation, und darüber wollte ich schreiben. An sich ist Adoption schon etwas Gewalttätiges, dessen Folgen man unterschätzt."

"Mitgenommen" spielt in einem Land im Ausnahmezustand. Die Armee kann schalten und walten, wie sie will. Da sich Major Anthonys sehr bestimmende Frau unbedingt ein Kind wünscht, nimmt er Lina einfach mit. Die Leichen der Eltern bleiben im geplünderten Haus zurück. Doch der Major tut sich, seiner Frau und erst recht nicht dem vor Entsetzen erstarrten Mädchen keinen Gefallen. Durch seine unwiderrufliche Tat gerät der tragische Idealist Anthony in ein "saugendes Moor der Illegalität".

Arnon Grünbergs Kunst besteht darin, in kühler Sachlichkeit aus der Sicht der handelnden Personen zu erzählen, ohne zu werten. Diese Methode verrät profunde Einsichten in psychologische Abläufe beim Militär. "Lesen allein genügt nicht immer", erläutert Grünberg seine Arbeitsmethode als "Embedded Journalist": "Ich glaube, es hat einen Unterschied gemacht, dass ich tatsächlich dort gewesen und mitgefahren bin. Wenn man die Gefahr teilt, wie gering sie auch sein mag, versteht man gewisse Sachen besser, gewisse Ängste. Im Kriegsgebiet ist man ja eigentlich immer im Ausnahmezustand."

Mit Lina ist Arnon Grünberg eine außerordentliche Mädchen- und Frauenfigur gelungen. "Unser Onkel" ist der Entwicklungsroman eines Mädchens, das seine Entführung zunächst für eine Probe hält. Als sie ihre aussichtslose Lage erkennt, lernt sie, sich mit Gleichmut zu wappnen. Später wird sie selbst ein Kind bekommen, aber durch ihr Schicksal entwurzelt bleiben. Ihre Tragödie will nicht enden, es kommt immer eine neue hinzu. Denn nach Major Anthony begegnet Lina erneut einem Mann, der meint, sie mitnehmen zu müssen. Wieder fällt sie einem Idealisten und selbst ernannten Wohltäter zum Opfer. Diesmal handelt es sich um den Führer einer Untergrundorganisation, genannt "der Dirigent". Grünberg ironisiert ihn als "demokratischen Gott": "Der Staat hat nur Respekt vor Gewalt. In einem Land wie diesem kann man keinen Unterschied zwischen zivilen und militärischen Zielen machen. Jeder Bürger kann ein Verräter sein, jeder Verräter ist ein legitimes Ziel.,Wir müssen gehen’, sagte er. ,Ich nehme dich mit. Hier gibt es keine Zukunft. Nicht für dich.’"

Bevor Lina im Schlepptau ihres neuen vermeintlichen Retters die Gemeinschaft der Bergarbeiter verlässt, führt sie ihn zu El Tío, dem Minengott. Es handelt sich um eine Art Vogelscheuche, die dem Besitzer der jeweiligen Mine ähnlich sieht. Dem Onkel werden Opfer wie Speisen oder Zigaretten dargebracht, damit kein Unglück passiert. Vor allem in Bolivien ist dieser Brauch weit verbreitet. Im Roman (in dem auch von Menschenopfern gemunkelt wird) soll der "Dirigent" den Minengott um Vergebung dafür bitten, dass er Lina mitnimmt. In solchen leicht surrealen Szenen schafft Arnon Grünberg ein Klima wie in Gabriel Garcia Marquez’ Romanklassiker "Hundert Jahre Einsamkeit". Der Autor erklärt: "Ich war ein paar Mal in den Minen von Bolivien, und dort hat man fast das Gefühl, in einem Roman zu sein. Es ist so eine surreale Welt. Die dortigen Arbeitsumstände sind für uns in Europa undenkbar. Deshalb lautet auch der Titel des Buches auf Holländisch ,Unser Onkel’, denn die Südamerikaner sagen: Oben ist Gott, aber unten ist der Teufel. Den nennen sie El Tío, der Onkel."

Auch einer der 33 im vergangenen Sommer geretteten chilenischen Bergarbeiter sagte, er habe unter der Erde mit Gott und Teufel gekämpft. Unser Onkel, der unberechenbare Minengott, erscheint als die einzige verlässliche Instanz in Linas Leben: "Die Sprache des Onkels ist die Sprache der Liebe. Wenn man ihm nur zu essen gibt. Wenn man nur an ihn denkt." Und er ist das heimliche Zentrum von "Mitgenommen", einem großen, verstörenden Werk, das direkt in die Abgründe der menschlichen Seele führt.