Arnon Grunberg
Frankfurter Allgemeine Zeitung,
2005-07-10
2005-07-10, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Kranker Vogel Jugend. Der niederländische Schriftsteller Arnon Grünberg lebt wild und schreibt darüber


Jan Brandt

eines Tages Christian Beck heißen. So wie der Protagonist seines gerade auf deutsch erschienenen Romans „Der Vogel ist krank".
Christian Beck hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle Illusionen zu zerstören. Er ist der „große Maskenabreißer", wie es im Buch heißt, ein schonungsloser Realist, der sagt, was er denkt. Als Übersetzer für Gebrauchsanweisungen hat er seine Ansprüche so weit reduziert, daß eigentlich nichts mehr schiefgehen kann. Vom Schriftstellerdasein hat er sich ebenso verabschiedet wie vom Glauben, in der Liebe sein Glück zu finden. Sein Erfolgsrezept: ohne Erwartung keine Enttäuschung, Sein Motto: zuschauen. Seine Definition von Erwachsensein: lernen, den Verlust auszuhalten.
Dann passiert das Unerwartete. Die Nachricht kommt früh am Morgen. Draußen ist es drückend schwül, die Hitze der vergangenen Wochen staut sich in der Meinen Göttinger Wohnung. Christian Beck liegt neben seiner Freundin im Bett. Seit Jahren sind sie ein Paar, und seit Jahren läuft nichts mehr zwischen ihnen. Trotzdem sind sie noch zusammen. Die Frau, die er zärtlich „Vogel" nennt, ist Teil eines reibungslos funktionierenden Systems, in dem Gefühle keinen Platz haben. Es ist nur ein Flüstern, ein einfacher, gehauchter Satz aus ihrem Mund, der dieses System - sein Leben - erschüttert: „Der Vogel ist krank."

Er ist erst 34 und hat schon mehr als ein Dutzend Bücher geschrieben. Große Romane und kurze, brutale Erzählungen. In seinen Geschichten geht es um Männer, die mit dem Leben und der Liebe nicht zurechtkommen, die viel zuviel Bier und Wein und Schnaps trinken und mehrmals in der Woche ins Bordeil rennen, weil sie sich ständig nach fremden Frauen und neuen Reizen sehnen. Wer die Texte des niederländischen Autors Arnon Grünberg liest, stellt sich den Schriftsteller womöglich als grobschlächtigen, kaputten Typen vor, als schreibwütigen Spinner, der keine Frau abkriegt und seinen Frust literarisch kompensieren muß.

Dabei macht Arnon Grünberg in Wahrheit einen ziemlich harmlo¬sen Eindruck. Er hat dunkelblonde Locken und trägt eine Hornbrille, deren Gläser so dick sind, daß die Augen dahinter fast verschwinden. Ganz höflich antwortet er auf alle Fragen, auf einem weißen Plastikstuhl vor dem Lettl sitzend, einem unscheinbaren Münchner Hinterhofhotel. Man darf sich von ihm jedoch nicht täuschen lassen. Er schlüpft gerne in Rollen, spielt mit Identitäten, maskiert sich, versteckt sich, gibt sich erst zu erkennen, wenn die Beweislage eindeutig ist, und wechselt dann den Namen, um in anderer Gestalt wieder an die Öffentlichkeit zu treten. Mal nennt er sich und seine Helden Arnon Grünberg, mal Marek van der Jagt, und vielleicht wird er


Also machte er sich, recht früh, daran, seine eigenen Träume zu erfüllen. Mit fünfzehn verließ er das Gymnasium. Er bewarb sich an Schauspielschulen, ohne irgendwo angenommen zu werden, bekam ein paar unbedeutende Rollen, arbeitete in einem Adreßbuchverlag und gründete seinen eigenen Literaturverlag, mit dem er nach wenigen Monaten pleite ging. Er trieb sich in Amsterdamer Bordellen herum und betrank sich bis zur Bewußtlosigkeit. Er hatte keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Dann gab ihm ein Lektor den Rat, das alles genau so aufzuschreiben. Und das tat er.

Viele seien enttäuscht, wenn sie ihn träfen, sagt Grünberg, weil ihre Vorstellung vom harten, unsentimentalen Autor nicht mit der Wirklichkeit übereinstimme. Er sei nicht Christian Beck. Und auch nicht Arnon Grünberg, obwohl die Hauptfigur seines 1994 erschienenen autobiographischen Debüts „Blauer Montag" so heißt. Dieser tiefeinnige Poproman, in dem ein junger Mann, Nachkomme jüdischer Einwanderer, von der Schule verwiesen wird, allerlei Drogen und Frauen ausprobiert und schließlich Callboy wird, um seine Süchte zu finanzieren. Dieser starke, rücksichtslose Anfang, in dem ein inkontinenter, kurzsichtiger Vater mit Pseudojüdinnen rurnschäkert und nicht erkennen kann, daß ihre Gesicher aussehen, „als hätten sie ein paar Jahre in Salzsäure gelegen", und eine hysterische Mutter erzählt, daß ihr Kahlkopf den SS-Männern gefallen habe. „Blauer Montag" brachte Grünberg nicht nur eine Menge Anerkennung, sondern mindestens ebensoviel Ärger ein.

Mit diesen vier Worten beginnt der gleichnamige, großartige Roman von Arnon Grünberg. Sie geben den Ton und das Thema vor und verweisen auf die Schrecken der nächsten 496 Seiten. Auf den Verfall, das Ende einer Beziehung und die poetische Kraft, die Grünbergs schlichte Prosa entfaltet. Nur auf eins verweisen sie nicht: auf den slapstickartigen Humor und die üblen Überraschungen, die auf jeder Seite lauern.

Den Tod des „Vogels" hat Beck nicht einkalkuliert. Und daß seine Freundin, bevor sie stirbt, noch etwas Gutes tun will, bringt ihn endgültig aus dem Gleichgewicht. Sie beschließt nämlich zu heiraten. Aber nicht ihn, sondern einen Asylbewerber, dessen Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen ist. Beck macht das Beste aus der Situation: Er leiht dem Algerier seine Badeschlappen, seine Unterhose, seine Frau. Er diszipliniert sich, „versucht alles zu vermeiden, was in Unhöflichkeit ausarten könnte", obwohl er weiß, daß das langfristig nicht gutgehen wird, weil es schon einmal nicht gutgegangen ist, als er einer Prostituierten mit einem Schraubenzieher ein Auge ausgestochen hat.

Das ist die Ausgangssituation für Grünbergs dreizehntes Buch. Der 1971 in Amsterdam geborene und in New York lebende Autor ist einer der erfolgreichsten, produktivsten und umstrittensten niederländischen Schriftsteller. Als er anfing zu schreiben, hatte er sich wie Christian Beck zum Ziel gesetzt, Illusionen zu zerstören. Er wollte, wie er sagt, „keine Halbrebellion". Alles sei so vorbestimmt gewesen. Er sollte Abitur machen, studieren und Jurist werden oder eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen. „Ich hätte nur die Träume anderer erfüllt und nicht mein eigenes Leben geführt."


Unter dem Pseudonym Marek van der Jagt veröffentlichte er die Romane „Monogam" und „Amour fou". Beide wurden mit bedeutenden nationalen Literaturpreisen ausgezeichnet. Dummerweise mit den gleichen, die schon Arnon Grünberg erhalten hatte. In den Zeitungen waren bald Artikel zu lesen, in denen die stilistische Ähnlichkeit zwischen den Autoren hervorgehoben wurde. Aber Grünberg bestritt, etwas mit van der Jagt zu tun zu haben. Erst ein Forschungsinstitut in Rom brachte durch einen lextvergleich den Beweis, daß es sich um dieselbe Person handeln müsse.

Nur einmal noch, im vergangenen Jahr, schlüpfte er wieder in eine Rolle, in die Rolle eines Vaters. Seine Exfreundin rief bei ihm an und sagte ihm, daß sie schwanger sei. Nicht von ihm, sondern von einem Bolivianer. Sie wolle aber, daß das Kind amerikanischer Staatsbürger sei, und fragte ihn, ob sie es bei ihm zur Welt bringen könne. „Klar", sagte Grünberg, „kein Problem." Für seine damalige niederländische Freundin war das jedoch ebenso ein Problem wie für den bolivianischen Vater. Die Freundin machte Schluß, und der Vater drohte damit, ihn, seine Frau und das Kind umzubringen. Wenn er davon erzählt, kopfschüttelnd und lächelnd, als könne er nicht fassen, daß es solche abstrusen, heftigen Geschichten wirklich gibt, ist ihm anzumerken, daß er die Ereignisse noch nicht überwunden hat. „Mein Privatleben", sagt er, „ist eine Katastrophe, Man ist auch für sein Unglück verantwortlich, und vielleicht sabotiere ich meine Beziehungen absichtlich, weil es literarisch ergiebiger ist." Wenn alles gelänge, gäbe es ja auch nichts mehr zu erzählen.

Ältere Holländer warfen ihm vor, den Holocaust zu verharmlosen. Die jüngeren, die das Dritte Reich nur aus dem Unterricht, den Medien oder den Erzählungen der Eltern kennen, sahen in Grünberg einen Sprecher ihrer Generation. Die meistzitierte und in vielen Schulbüchern nachgedruckte Passage lautet: „Eine Idee von unserem Geschichtslehrer. Schnell mal Shoah gucken. Alle saßen da und sahen sich diesen ster¬benslangweiligen Film an, und zuletzt brach irgend so eine Tussi sogar in Tränen aus."

Grünberg fühlte sich damals von beiden Seiten mißverstanden. Was er aufgeschrieben hatte, war seine eigene Geschichte. Seine Eltern sind deutsche Juden. Sein Vater, 1912 in Berlin geboren, tauchte nach der Machtübernahme der Nazis in den Niederlanden unter, und seine Mutter, Jahrgang 1927, überlebte mehrere Konzentrationslager. „Manchmal haben wir ganz sachlich über die Schoa gesprochen", sagt Arnon Grünberg, „aber manchmal, wenn meine Mutter wütend auf mich war - und sie war oft wütend - rief sie: ,Du bist schlimmer als Auschwitz!'" Er habe dann immer lachen müssen, weil es so übertrieben gewesen sei, so theatralisch.

Vielleicht ist Grünberg auf der Bühne daran gescheitert, daß in seinen Worten immer auch Ironie mitschwingt und man das, was er sagt, ebensowenig ernst nehmen kann wie er die Beleidigungen seiner Mutter. Und vielleicht hat das Schauspiel, das er später als Autor inszenierte, besser funktioniert, weil er nicht immer in Erscheinung treten mußte.