Arnon Grunberg
Die Welt,
2005-03-26
2005-03-26, Die Welt

Das Asylbewerber in meinem Bett


Hendrik Werner

Es ist nur noch die unwiderstehliche Macht der Gewohnheit, die Christian Beck und seine abwechselnd Vogel, Vögelchen und Vogelkind genannte Langzeitfreundin verbindet. Ein vor der Zeit vergreistes Paar, dessen Hälften weder mit noch ohne einander sein können. Und zudem schon seit Jahren über kein Beziehungs-Pattex namens Sex mehr gebieten. So leben sie frucht- und freudlos vor sich hin, die Naturwissenschaftlerin und der gescheiterte Schriftsteller, der sich in Göttingen, diesem niedersächsischen Herzen der Finsternis, als Übersetzer von Gebrauchsanweisungen verdingt. Samuel Becketts tragikomischen Figuren Hamm und Clov durchaus ähnlich, die das Begehren nach Trennung zwar oft im Munde führen und ihm doch nie nachgeben. Ein Endspiel ist auch Arnon Grünbergs neuer Roman. Genauer: Ein Spiel zum Tode. Das ahnt Beck, als ihn seine Überlebensgefährtin mit der horrenden Nachricht "Der Vogel ist krank" konfrontiert. Der seltsam defätistische und passive Mann nimmt die Hiobsbotschaft mehr hin, als daß er sich dauerhaft von ihr verstören ließe. Wie er überhaupt getreulich so ziemlich alles hinnimmt, was ihm zustößt. Selbst den Umstand, daß seine dem Tod geweihte Dauergefährtin in ihrem pathologischen Altruismus einen algerischen Asylbewerber heiratet. Beck räumt sein Bett. Bereitwillig. Und schlägt sein Nachtquartier unter der Garderobe auf, während aus dem Schlafzimmer Brunftgeräusche seiner Freundin und ihres Beischläfers dringen. Beck, diesen Virtuosen der Selbstverleugnung, ficht das nicht weiter an. Wähnt er doch das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen sich und dem Vogel als unerschütterlich.

Becks Lebenslüge, das zeigt Arnon Grünberg auf einer zweiten, die Jetztzeit des Erzählens raffiniert spiegelnden Ebene, hat eine Vorgeschichte: Schon einmal hat der Vogel einen sozialen Außenseiter unter seine Fittiche genommen, um jene Wunden zu verschmerzen, die ihr die Beziehungsdienst-nach-Vorschrift-Haltung ihres Herzbuben zufügten. Damals, während eines Forschungsaufenthalts im israelischen Eilat, bemutterte sie einen Krüppel, derweil sich Beck allabendlich im Bordell mit Sosha, der hinfälligsten aller Huren, vergnügte. Es scheint, als sei die Liebe zum Kranken und Morbiden das einzig noch verbliebene Verbindungsglied zwischen Beck und Beckerin. Dagegen spricht auch nicht, daß Christian Beck, diese bemitleidenswerte Parodie auf Camus' Fremden, Sosha irgendwann mit einem Schraubenzieher ein Auge aussticht, weil er ihre "Fick mich!"-Rufe nicht mehr erträgt.

Das alles dürfte weitaus wilder, abenteuerlicher und gefährlicher klingen, als es sich liest. Tatsächlich ziehen sich die ersten beiden Drittel des 500-Seiten-Romans einigermaßen dröge hin. Grünberg, dieser eigentlich ungestüme und anarchische Fabulierer, den Enfant terrible des niederländischen Literaturbetriebs zu nennen üblich geworden ist, scheint erwachsener, lies: weniger pubertär geworden zu sein - und bedauerlicherweise auch etwas betulicher. Jenes Tempo und jener Wendungsreichtum jedenfalls, die seine Erzählweise in früheren Romanen auszeichneten (zumal den unter dem Pseudonym Marek van der Jagt entstandenen "Monogam" und "Amour fou"), sind weitgehend suspendiert. An ihre Stelle ist eine nicht nur von des Gedankens Blässe angekränkelte Reflexionsprosa getreten, die zwar mit reichlich zitablen Beziehungssinnsprüchen aufwartet, aber eben auch mit ungebührlich vielen anämischen Dialogen. Tristen Selbstbefragungen des Protagonisten sowieso.

Nachhaltig ändert sich das erst im letzten Drittel des Textes, in dem sich Grünberg endlich wieder als jener Meister der Groteske erweist, als den man ihn zu kennen vermeinte. In einem furiosen Hochgeschwindigkeitsfinale läßt er den Vogel sterben - ein dramaturgischer Befreiungsschlag für den zuvor oft zähflüssigen Fortgang des Romans. Um alsdann die beiden Hinterbliebenen auf skurrile Weise Abschied von ihrer gemeinsamen Frau nehmen zu lassen, bevor der Asylbewerber schließlich mit des Vogels Asche Göttingen verläßt, um, wie er sagt, sein Volk zu befreien. In diese Zeit, die doch den Beginn von Becks Regenerationsphase markieren sollte, fällt ein Attentat auf ein Luxusbordell in Amsterdam. Ein Anschlag, den Beck in einer früheren Erzählung imaginiert hatte. Mithin ein gefundenes Fressen für die Medien, die ausgerechnet den phlegmatischen und vielfältig desinteressierten Beck vor laufender Kamera als großen Immoralisten vorführen. Am Ende ist Beck dem Wahnsinn nahe. Und der Leser trotz der spannenden Schlußphase des Endspiels etwas ratlos, welche Moral sich aus den heterogenen Krankengeschichten ergibt, die das Buch versammelt. Der Appell, Asylbewerber zu werden, wird es wohl nicht sein. Und doch ist der die einzig gesunde Figur auf dieser Literatur gewordenen Intensivstation.