Arnon Grunberg
Buchtips.net,
2011-10-07
2011-10-07, Buchtips.net

Gnadenfrist


Winfried Stanzick

Der niederländische, zeitweise auch in New York lebende Schriftsteller Arnon Grünberg ist immer für einen interessanten, außergewöhnlichen und nicht selten auch skurrilen Plot gut. Grünberg, der in den neunziger Jahren als absoluter shooting-star nach seinem Debütroman "Blauer Montag" von der Kritik gefeiert wurde und unter dem Namen Marek van der Jagt zwei weitere vielbeachtete kleine Romane vorgelegt hat ( alle bei Diogenes), legt die Handlung seines neuen Romans "Gnadenfrist" in das Peru der Jahre 1996 und 1997 und verknüpft das skurril-hoffnungslose Schicksal seines Protagonisten mit einem realen Ereignis, das weltweit für Aufsehen sorgte.

Jean Baptist Warnke ist Diplomat. Nach Jahren des Dienstes in der niederländischen Botschaft in Südafrika, lebt er nun seit einigen Jahren mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Perus Hauptstadt Lima, wo er in der dortigen niederländischen Botschaft der "zweite Mann" ist. Er schiebt eine ruhige Kugel, hält sich aus allem raus. Man droht beim Lesen des Lebens dieses Mannes fast einzuschlafen ob seiner tödlichen Langweiligkeit und Spießigkeit. Wie Grünberg die inneren Monologe und Dialoge von Warnke schildert, ist absoluter Lesegenuß, wenn man einmal mit dem an Nihilismus grenzenden Stil Grünbergs warm geworden ist. Warnke geht, nachdem er am Nachmittag mit dem Botschafter die obligatorische halbe Flasche Riesling getrunken hat, jeden Tag ins Cafe, um die "Newsweek" zu lesen. Dort trifft er eines Tages Malena, eine einheimische junge Frau, die ein auffälliges Interesse an Warnke zeigt und ihn schlussendlich auch ins Bett bekommt. Warnke ist geschmeichelt ob dieses Begehrtwerdens und merkt nicht, was dem Leser nach einigen Seiten deutlich ist: Malena ist Mitglied der ländlichen peruanischen Widerstandsbewegung " Movimento Revolucionario Tupac Amaru", einer Organisation, die Anfang der 1990 er Jahre sich mit den eher städtisch-intellektuellen, streng maoistisch organisierten "Sendero Luminoso" zusammenschlossen.

Warnke verliebt sich in Malena, schreibt ihr sentimentale Gedichte und gibt jede Woche ein Päckchen für sie auf. Nicht selten befindet sich darin Sprengstoff. Doch Warnke stellt keinen Zusammenhang her zwischen seinen Botendiensten und den zunehmenden Anschläge auf niederländische Objekte. Kurz vor Weihnachten rät Malena ihm, den Weihnachtsempfang der japanischen Botschaft zu meiden. Warnke kann, ohne es groß begründen zu müssen, sogar seinen Botschafter davon überzeugen, daß es besser sei, nicht hinzugehen.

Am 17. Dezember 1996 dringt ein schwer bewaffnetes Kommando der Rebellen in einen Empfang in der Residenz des japanischen Botschafters in Lima ein. Von den 483 Geiseln werden noch am ersten Tag 200 Personen, meist Frauen, freigelassen. Während der lang andauernden Besetzung lassen die Rebellen immer weitere Geiseln frei. Doch die Regierung des japanisch-stämmigen Präsidenten Alberto Fujimori ( er gewann 1990 die Wahl gegen den Schriftsteller Mario Vargas Llosa) bleibt beinhart und lässt die Armee am 22. April 1997 die Botschaft stürmen und alle Geiselnehmer erschießen. 71 Geiseln werden befreit.

Seit Beginn der Besetzung hat Warnke von Malena nichts mehr gehört, und noch immer stellt er keinen Zusammenhang her. Der Regierung in Den Haag kommt es langsam spanisch vor, daß kein niederländisches Botschaftspersonal von der Geiselnahme betroffen war. Warnke redet sich solange heraus, bis der Botschafter ihn mit geheimen Bildern von den Treffen mit Malena konfrontiert und ihn zur Demission zwingt. Warnkes Frau kehrt entrüstet nach Holland zurück und reicht die Scheidung ein. Warnke sackt ab, zumal, nachdem er auf den Bildern von der Befreiung die von ihm schwangere Malena unter den getöteten Geiselnehmern identifiziert hat.

Eines Tages trifft er, mittlerweile auf der Straße lebend, einen Kollegen Malena wieder, den er am Anfang ihrer Beziehung auf einem als Chorprobe getarnten Fest der Rebellen kennen gelernt hat. Und auch er, Warnke, geht nach diesem Treffen dem sicheren Tod entgegen...

Schon der Protagonist in Grünbergs letztem Roman "Der Vogel ist krank" nimmt ein tödliches Ende. Auch hier im neuen Roman scheint der einzige Ausweg aus einer absolut sinnlos erlebten Existenz ein genauso sinnloser Tod.

Fazit

Der neue Roman ist unterhaltsamer zu lesen als der letzte, der von Anfang bis Ende den Leser angesichts irritierend-hoffnungsloser Figuren eher deprimierte. Und doch irritiert auch hier das Ende. Grünbergs sarkastisch-grotesker Stil, bis hin zum absolut Nihilistischen, das gar keinen Sinn in einer als sinnlos empfundenen Welt erkennen will, ist keine leichte Kost für Menschen, die doch einen großen Teil ihres Lebens damit verbringen, einen solchen Sinn immer wieder zu entdecken und ihren Kindern zu vermitteln. Dennoch ist die Lektüre dieses Buches eine immer wieder interessante und nicht selten auch amüsante Herausforderung.