Arnon Grunberg
Süddeutsche Zeitung,
2006-08-28
2006-08-28, Süddeutsche Zeitung

Botschafter auf Abwegen. Arnon Grünberg sprengt einen goldenen Käfig


Jens-Christian Rabe

Jede Kultur hat die literarischen Helden, die sie verdient. Bedürfte diese These noch eines weiteren Beweises von der wohlhabenden Nordhalbkugel, mit Arnon Grünbergs neuem Roman „Gnadenfrist“ wäre er erbracht. Hauptfigur des Buches ist der satte Biedermann Jean Baptist Warnke, Vize der niederländischen Vertretung in Lima. „Bei einem Botschaftslunch zu Ehren zweier niederländischer Nonnen, die sich seit fünfundzwanzig Jahren für minderjährige Schuhputzer einsetzen, geht Jean Baptist Warnke mit einem Mal auf, daß seine Zufriedenheit schon fast etwas Anstößiges hat. Schöner kann das Leben nicht mehr werden, und das braucht es auch nicht.“

So beginnt das einstige Wunderkind der niederländischen Literatur Arnon Grünberg, 1971 in Amsterdam geboren, seine – nur rund 150, großzügig bedruckte Seiten lange – Version europäischen Heldentums zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Zwar ist damit auch sofort klar, dass sich hinter so viel Wohlgefallen bald ein Abgrund auftun muss, aber das mindert das Vergnügen kein bisschen. Denn der Autor scheint die Sache ziemlich sportlich genommen zu haben. Das Motto des 2004 als Auftragsarbeit anlässlich des Literarischen Büchermonats des Amsterdamer Buchhändlers de Bijenkorf entstandenen Romans muss gewesen sein: Wo die Ausgangslage einen wirklich existenziellen Konflikt eigentlich völlig ausschließt, da macht es nur umso mehr Spaß, die Schraube so lange zu drehen, bis es doch so weit kommt.

Bevor es um Leben und Tod geht, ist der Leser Zeuge, wie sich der biedere Botschafter durch seine ereignislosen Tage schleppt, schlaff seinen Gedanken und Erinnerungen nachhängt, abends gerührt seine beiden wunderbaren Töchter badet und danach neben seiner perfekten Frau vor dem Fernseher sitzt. Präzise vermisst Grünberg den selbstgewählten goldenen Diplomaten-Käfig mitsamt seinem Protagonisten, kein Satz, kein Wort zuviel beschwert die schlanke Prosa. Die vielen feinen Risse in Warnkes Routine-Leben erscheinen nicht als plumpe Volten des Plots sondern vielmehr als unaufdringliche Mitgift des Erzählflusses.

Wenn Warnke dann einem peruanischen Mädchen verfällt, er, der eigentlich peinlich genau darauf bedacht ist, den Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung zu vermeiden – dann ist man schon so verstrickt in die Geschichte, dass man ihr umso willfähriger folgt, je schräger ihre Wendungen werden. Von denen soll hier aber nur so viel verraten werden: Das Geiseldrama in der japanischen Botschaft von Lima in den Jahren 1996 und 1997, das der peruanische Präsident Fujimori damals mit einem Massaker beenden ließ, spielt eine Rolle und – später – auch ein Bombengürtel um Warnkes Hüfte.

„Diplomatie ist die Kunst des Möglichen“, so wird Warnke an einer Stelle von seinem Chef belehrt. Arnon Grünbergs Buch darf als Beweis dafür gelesen werden, dass die Literatur die Kunst ist, welche die Möglichkeit des Unmöglichen glauben machen kann. Und wenn es nur für ein paar Stunden ist, für eine Art Gnadenfrist.