Arnon Grunberg
Die Zeit,
2014-02-23
2014-02-23, Die Zeit

Kein Trost ohne Macht


Marie Schmidt

Die Geschichte beginnt mit den Worten: "Weil sein Großvater mit aufrichtiger Begeisterung und rückhaltlosem Glauben an die Zukunft der SS gedient hatte …" Zumal wenn man diesen Anfang auf Deutsch liest, ließe sich erwarten, dass der Kausalzusammenhang gravitätischen Ernst nach sich zieht, wobei einen schon in diesem ersten Halbsatz ein Unterton gespielter Naivität zögern lässt. Und tatsächlich: Das, was auf den über sechshundert Seiten des Romans Der jüdische Messias folgt, ernst zu nehmen wäre so krude, dass man sich schwer dazu entscheiden kann. Solche Unsicherheit zu stiften, darin besteht der ästhetische Gewinn dieses Buches, und zugleich liegt darin wahrscheinlich der Grund, warum es neun Jahre lang nicht aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt wurde.

Die Hauptfigur, Xavier Radek, der seinem Großvater an Eifer nicht nachstehen will, macht es sich als Teenager zur Aufgabe, das Leid der Menschen zu ergründen, indem er "Tröster der Juden" wird. Also freundet er sich mit Awrommele an, dem Sohn eines Rabbiners. Die Jungen beschließen, Mein Kampf ins Jiddische zu übersetzen. "›Typisch Antisemiten‹, rief Awrommele. ›Es gibt Schriftsteller, die überall rauskommen wollen, nur nicht in Israel.‹ Er wurde ein wenig rot vor Aufregung. ›Vielleicht sollten wir das dann übersetzen‹, schlug er vor." Dabei entsteht eine große Liebesgeschichte zwischen den beiden, die dadurch initiiert wird, dass sie entsetzliche körperliche Misshandlungen erleiden müssen, und besiegelt wird durch den bedeutungsschwangeren Schwur, sich zu lieben, ohne etwas dabei zu fühlen.

Awrommele organisiert denn auch eine Beschneidung für Xavier, die allerdings ein beinahe blinder Käsehändler vornimmt. Was natürlich schiefgeht, und Xavier verliert einen Hoden, den er künftig, in einem Glas konserviert, mit sich herumträgt und König David nennt. Eine Reihe grotesker Wendungen und bizarrer Nebenfiguren später befindet sich das Paar in Israel, und Xavier ist ein Politiker, der sich mehr und mehr an die Alleinherrschaft bringt. Dabei nährt er den Glauben der Leute, jener König David im Glas sei "der Messias", und überzieht unter diesem Signum die Welt mit Krieg. Auf den letzten Seiten, in einem Bunker seine Schäferhunde erschießend, ähnelt er immer deutlicher Hitler, der nur "du-weißt-schon-wer" genannt wird.

Dieser Roman hantiert auf verwirrende Art mit Typen deutschen Geschichtsbewusstseins, und offensichtlich hat man sich beim Diogenes-Verlag, der eigentlich alles von Grünberg rasch übersetzen lässt, länger gescheut, diesen hier zu veröffentlichen. Die Befürchtung liegt auch wirklich nahe, das Buch könnte in Deutschland missverstanden werden, Gefühle verletzen. Die Frage ist nur: Wessen Gefühle?

Arnon Grünberg, Sohn deutscher Juden, lebt in New York, wo er auf Niederländisch schreibt, und zwar so produktiv, dass er ungemein präsent ist in den Niederlanden. Er betreibt eine tägliche Kolumne auf der Titelseite von De Volkskrant, führt Interviews und schreibt Reportagen für Magazine. Bislang hat er zwölf Romane veröffentlicht, nebst zweien unter dem Pseudonym Marek van der Jagt. Das sind drastische Erzählungen über Liebe, die jetzt auf Deutsch noch einmal unter seinem eigenen Namen herausgegeben werden (Amour fou, 2013, und Monogam , 2014).

Das Erscheinen des Jüdischen Messias , den Daniel Kehlmann bei Gelegenheit als Grünbergs Hauptwerk eingeordnet hat, hat man im hauseigenen Magazin des Diogenes-Verlags mit einem Interview begleitet, in dem Grünberg obligatorische Fragen gestellt werden: "Darf man Witze über den Holocaust machen?" (Antwort: "Wir haben keine andere Wahl."), oder: "Wollen Sie Ihre Leser aufrütteln mit diesem Roman, sie schockieren?" Darauf der Autor: "Die Wirklichkeit ist schockierend. Der Schriftsteller sollte uns daran erinnern. Einige Leser mögen das schwierig finden oder sogar unangenehm, aber ich betrachte das, verzeihen Sie den Ausdruck, als meine Aufgabe."

Und Grünberg liegt ja nicht falsch, wenn er mit einem Publikum rechnet, das sich vor der Wirklichkeit der Themen, um die es hier im Kern geht, also um den Faschismus und den Antisemitismus, in gefühlsneutrale Erinnerungsphrasen und gemütliche Gedenkroutinen zurückgezogen hat. Um solche Leser den Schock noch spüren zu lassen, reicht das Verfahren der Verfremdung vielleicht gar nicht mehr aus, und es bedarf sogar der Entstellung.

Grünbergs literarische Taktik besteht darin, Gefühle krass aufeinanderprallen zu lassen, deren Zusammenhang alltägliche Erzählungen sanft wegerklären. Schon in früheren Büchern schlagen Liebe und Gewalt, Lust und Ekel, Sex und Macht kontrastreich ineinander um. Hier sehen nun sogar noch Ressentiments plötzlich wie Begehren aus, hier äußert sich zynischer Sadismus mit größter Zärtlichkeit. Zu allem Überfluss scheinen sich die Menschen kaum zu verstehen: "Unser Sprechen ist nicht für die anderen bestimmt, sondern nur für uns selbst." Der eigentliche Weg der Kommunikation, lernt Xavier auf seiner Suche nach dem Leid, sei der Schmerz, besonders der körperliche. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere sieht er schließlich ein: "Trost setzt Macht voraus." Sein aus antisemitischer Neugier gespeister Philosemitismus wird zum Totalitarismus.

Die Figuren dieses Romans setzen sich selbst und sich gegenseitig entsetzlichen Torturen aus, und über deren brutal lakonischen Schilderungen liegt eine ganz bestimmte Traurigkeit. Vielleicht ein Bedauern darüber, dass alle sicheren Unterscheidungen von richtig und falsch, Urteil und Mitgefühl, Wunsch und Schrecken ständig umzukippen und sich selbst anzugreifen scheinen. Dabei hat der rasante Wechsel konträrer Gefühle einen kalkuliert abstoßenden Effekt. Wer sich auf höfliche Zurückhaltung und vorhersehbare Einordnungen verlassen will, wenn von Antisemitismus, Tätern und Opfern die Rede ist, auf den wird dieses Buch seine verletzende Wirkung auf keinen Fall verfehlen.