Arnon Grunberg
Die Welt,
2002-07-20
2002-07-20, Die Welt

Was ist denn schon das unten rum?


Alexander von Bormann

Marek van der Jagt erzählt von sich. Und da Marek van der Jagt eine Kunstfigur ist, folgt man dem Erzähl-Ich noch bereitwilliger. Der Roman spielt in Wien, die Hauptperson ist die Mutter des Erzählers. Es war ein wenig anders gemeint, Marek wollte uns die Geschichte seiner Kahlheit vortragen. Aber immer wieder zieht die Mutter alle Aufmerksamkeit auf sich. Sie war, als extravagante Frau eines wohlhabenden Mannes, ein Star. Es ist eine Mutter, die für den Sohn eine Denk- und Deutungsaufgabe darstellt. Am Schluss erfahren wir auch, dass Marek noch einen besonderen Grund dafür hat, ständig an sie zu denken. Er war an ihrem Tod aktiv beteiligt. Doch Marek quält sich nicht, er lebt sein Leben und will es nehmen, wie es kommt.

Eher nebenher erfahren wir, warum Marek "sein braunes, glänzendes und leicht gewelltes Haar" verloren hat: Er hat sich zur Einnahme von Pillen überreden lassen, die sein Zeugungsgerät vergrößern sollten. Tun sie aber nicht. Sein Haar ging ihm dafür aus.

Bei einer flotten Sexszene mit zwei Touristinnen musste der 15-Jährige feststellen, dass er "untenrum ein Zwerg" ist. Diese Einsicht trifft ihn natürlich. Und das in einem Moment, wo er sich gerade ausgedacht hatte, die wahre Berufung des Menschen sei der Amour fou. Der Versuch, herauszubekommen, was das sei, führt zu ergötzlichen Szenen. Da der Amour fou eine Idee ist, in deren Dienst sich Marek gestellt weiß, kommt es zu Diskrepanzen mit der Wirklichkeit. Der Junge trägt sein Problem dem Familienkreis vor, doch der bleibt uninteressiert. Marek beschließt, "ein Zwerg zu werden, gefangen im Körper eines mittleren Riesen", und beginnt, im Entengang durch die Stadt zu laufen. Ein Lehrer macht ihn mit dem Psychologen Professor Hirschfeld bekannt. Und es gibt am Ende einen Hinweis, dass wir die Erzählung auch als Antwort auf die Aufforderung Hirschfelds an Marek lesen können, tief in seinem Gedächtnis zu graben. So gibt es gestaffelte Gegenwarten im Buch: Der Vater ist neu verheiratet, die gestorbene Mutter nah und stets präsent, das Ich über alle Illusionen hinaus.

Es ist nicht der romantische Taugenichts, der hier erzählt, eher dessen Urvater, der spanische Lazarillo: ein gebeuteltes und doch naiv gebliebenes Ich, das allen glaubt, weil es sie für wahrer, für wirklicher hält als sich selber. Er geht davon aus, "dass auch Leben eine Fähigkeit war, über die manche Menschen verfügten und andere eben nicht".

Als der Mutter ein Tumor im Kopf attestiert wird, versöhnt sich Marek mit seinem geringeren Problem: "Dass ich dabei war, ein geschlechtsloser Mensch zu werden, schien mir plötzlich unbedeutender Kleinkram. Was war schon ein Geschlecht, wenn man näher darüber nachdachte. Wenn man es hatte, war es gut, aber wenn man es nicht hatte, ging es auch. Die Leute merkten doch keinen Unterschied."