Arnon Grunberg
Süddeutsche Zeitung,
2014-08-19
2014-08-19, Süddeutsche Zeitung

Das Leben folgt keinem Bauplan


Christian Mayer

Als er schon alt und berühmt war, hatte Frank Lloyd Wright seinen abenteuerlichsten Plan. Der amerikanische Architekt wollte der Stadt Bagdad zu neuem Glanz verhelfen. Heute ist es unvorstellbar, dass der Irak einmal eine kreative Spielfläche für Baumeister wie Walter Gropius, Le Corbusier oder Oscar Niemeyer war, doch in den Fünfzigerjahren, als die Ölindustrie florierte, besaß das Land noch Hoffnung, Geld und in König Faisal II. einen weltgewandten Herrscher. Frank Lloyd Wright zählte zu den Stars der Moderne, die Faisal in den Irak eingeladen hatte. Der greise Großarchitekt plante das Projekt „Greater Baghdad“ gleich in ganz großem Maßstab. Krönen wollte Wright sein Werk mit der Statue des legendären Kalifen Harun al-Raschid und mit einem spektakulären Opernhaus auf einer Flussinsel; Szenen aus „Tausendundeiner Nacht“ sollten den kreisförmigen Palast mit der märchenhaften Kuppel schmücken.
Puccini und Verdi am Tigris? Das Opernhaus wurde nie gebaut, König Faisal II. fiel 1958 einem Anschlag zum Opfer, und seine blutrünstigen Nachfolger hatten weniger noble Pläne.
Seit jeher träumen Architekten davon, die Welt schöner und großartiger zu machen. So wie Samarendra Ambani, die Hauptfigur in Arnon Grünbergs Roman „Der Mann, der nie krank war“. Sam wächst als Sohn eines indischen Einwanderers und einer Zürcherin in der Schweiz auf, für den Vater ist die Schweiz das perfekte Land, bis er bei einem Bergunfall ums Leben kommt. Auch Sam sehnt sich nach Vollkommenheit, nach Anerkennung – deshalb studiert er Architektur. „Der große, anonyme Beeinflusser des Lebensglücks aller Menschen war der Architekt“: Das ist die Geisteshaltung, die er von seinem Vorbild Max Fehmer übernimmt, einem weltberühmten Architekten, der Sam die Gnade eines Praktikums gewährt.
Auch privat scheint Sam sein Glück gefunden zu haben, denn er trifft Nina, die seinem Idealbild einer Frau sehr nahekommt; sie sieht nicht nur blendend aus, sondern ist auch äußerst auf Hygiene bedacht, beim Sex vor allem. „Nina liebt Kunst und glaubt an Mäßigung: nicht zu viel von diesem, nicht zu viel von jenem.“ Natürlich ist Nina vehement dagegen, als ihr Freund zu einer Reise in den vom Bürgerkrieg zerstörten Irak antritt, um an einem Architekturwettbewerb teilzunehmen. Sam fliegt auf Einladung eines Konsortiums, das der reiche Exil-Iraker Hamid Shakir Mahmoud gegründet hat.
Es geht um den alten Traum, ein Opernhaus am Tigris zu bauen. „Wenn die Menschen in Bagdad in die Oper gehen können, wissen wir, dass der Krieg nicht umsonst war“ – mit diesem Satz hat der irakische Mäzen den jungen Architekten für sich gewonnen. Frank Lloyd Wrights Vision könnte doch noch Wirklichkeit werden.
Der niederländische Romanautor und Dramatiker Arnon Grünberg, geboren 1971, erweist sich als Meister des intelligenten Kurzsatzspiels und des listigen Understatements, bisweilen treibt er seine Lakonie zum Äußersten. Und so merkt der Leser anfangs gar nicht, in was er da hineingeraten ist: „Der Mann, der nie krank war“ ist auch ein politischer Thriller. Und ein düsteres Lehrstück über falsch verstandenen Idealismus und Realitätsverlust.
Die unaufgeregte Erzählweise passt gut zu seiner Hauptfigur, zum überangepassten Migrantensohn, der so gerne der perfekte Schweizer wäre. Sam zeigt immer nur dann Gefühle, wenn es von ihm erwartet wird; er zählt zu jenen Menschen, die sich nie gehen lassen können, die ihr Leben nach Plan leben, um am Ende doch verschlungen zu werden – von ihrem Beruf.
Der Irak wird für den Architekten zum Selbsterfahrungstrip; es ist eine Reise in ein zerstörtes, moralisch verwahrlostes Land. Auf dem Flughafen in Erbil wird Sam von zweifelhaften Bewachern in Empfang genommen und in eine heruntergekommene Villa gebracht, wo er darauf wartet, seinem Auftraggeber vorgestellt zu werden. Seine Kleider hat ein Unbekannter aus dem Koffer gestohlen, seine Zuversicht verliert er Stück für Stück – bis Sam um sein Leben fürchtet, als der geheimnisvolle Hamid Shakir Mahmoud ermordet wird. Sam flüchtet aus der Villa und landet in der Gewalt der Militärmachthaber, die ihn verdächtigen, ein Spion zu sein. Er wird geschlagen, gefoltert, erniedrigt. Bis er schließlich doch noch freikommt, auf Druck der Schweizer Diplomaten, die ihm eher widerwillig helfen.
Könnte man in einem Land, in dem alle Menschenrechte mit den Füßen getreten werden, in dem Mord ganz normal ist, ein Opernhaus bauen? Die Romanidee klingt verrückt, es sei denn, man ist ein Architekt, der die Wirklichkeit ausblendet. Man kann, wenn man will, dieses Buch auch als bitterböse Satire auf die global operierenden Architekturnomaden und Planungsweltmeister lesen, die sich selbst in der Nachfolge von Frank Lloyd Wright sehen, selbst wenn sie nur Investorenwünsche erfüllen. Und es braucht auch nicht allzu viel Phantasie, um bei Fehmer, dem maßlos eitlen Architekturguru, nicht an real existierende Branchengötter wie Rem Koolhaas zu denken, die ihre monströsen Baukörper besonders gerne in autoritären Staaten in die Erde oder den Wüstensand stampfen.
Gedemütigt kehrt der Architekt zurück in die Schweiz, er hat ja noch immer seinen Beruf, seine Freundin, die ihn liebt, seine Familie. Zugleich ist er gefangen in seiner Scham, seinen Schuldgefühlen, seiner Angst. Sam möchte, dass Nina ihn Hund nennt, „Dog“, so wie seine Peiniger im irakischen Kerker. Er möchte, dass sie unter der Dusche auf ihn pinkelt, das verschafft ihm Befriedigung. Sam kann, wie viele Opfer, nicht über das Trauma sprechen, vor allem nicht in den Schweizer Medien, die äußerst reserviert über seinen Fall berichten: Er sieht halt doch eher wie ein Inder aus, das macht ihn verdächtig.
Vollends aus der Bahn gerät der Architekt, als er einen zweiten Anlauf im Ausland nimmt. In Dubai, dem „Mekka der Architekten“. Sam und sein Partner sollen eine Bibliothek für den Emir bauen, ein nach außen hin philanthropisches Bauwerk, das in Wahrheit nur Tarnung für einen gigantischen Bunker ist.
Noch einmal gerät alles ins Wanken, wird der Architekt zum Ziel falscher Verdächtigungen, dieses Mal nach einem Pokerabend im Kreis alkoholseliger Expats, der westlichen Dienstleister, die in Dubai auf das schnelle Geld hoffen. Nicht nur an dieser Stelle erinnert man sich an Dave Eggers tragikomischen Roman „Ein Hologramm für den König“ – die Geschichte eines rasch alternden Amerikaners, der in der Wüste von Saudi-Arabien vergeblich darauf hofft, dass sein Auftraggeber, der Herrscher über eine neue Retortenstadt in der Wüste, endlich erscheint. Der Unterschied: Grünbergs Buch ist härter, kafkaesker, noch ein paar Grad kälter. Es hat Schärfe, Witz und Spannung, gerade weil kein Wort zu viel ist, manchmal würde man sich eher ein paar Sätze mehr wünschen. Und manchmal erliegt Grünberg einer etwas klischeehaften Weltsicht.
Man könnte dem Autor vorwerfen, dass er mit seinem Roman finstere Vorurteile gegenüber muslimischen Ländern bestätigt, in denen es zu allem Unglück noch ein massives Kakerlakenproblem gibt. Doch das wäre zu einfach. Auf der anderen Seite zeigt Grünberg die angeblich so saubere und ordentliche Schweiz als einen Ort, der zur Hölle werden kann. Am härtesten geht der Autor ohnehin mit Sam ins Gericht, der bis zuletzt glaubt, die Welt schöner und großartiger machen zu können: Viel Mitleid darf man nicht erwarten, wenn man Architekt seines eigenen Untergangs ist.