Arnon Grunberg
Die Zeit,
2014-11-27
2014-11-27, Die Zeit

So hohl wie ein Spion


Merten Worthmann

Der niederländische Autor Arnon Grünberg ist als eingebetteter Journalist ein halbes Dutzend Mal in den Irak und nach Afghanistan gereist. Später hat er sich mehrmals öffentlich beklagt über die Begriffsstutzigkeit vieler Westler angesichts einer Wirklichkeit, die offenbar nicht zu ihren mitgebrachten Maßstäben passte. Nun handelt Grünbergs neuer Roman Der Mann, der nie krank war von einem Schweizer Architekten, der in Bagdad und Dubai als abendländischer Hans Guck-in-die-Luft brutal auf die Schnauze fällt. Bekommen wir jetzt noch einmal literarisch aufgefaltet, was der Autor zuvor schon knapper, in Interviews und Reportagen, mitgeteilt hat? Grünbergs außerordentliche Produktivität – mehr als ein Dutzend Romane in knapp 20 Jahren, dazu Theaterstücke, Drehbücher, eine ausufernde journalistische und essayistische Arbeit – könnte das nahelegen. Aber zu dieser Produktivität gehört es offenbar auch, die eigenen Thesen im literarischen Nachvollzug erneut in den Ring zu werfen. Jedenfalls ist Der Mann, der nie krank war viel abgründiger geraten, als man meinen könnte.

Grünbergs radikal unaufgeregte Prosa läuft auf keinerlei überraschende Enthüllung hinaus. Eher auf ein zartes, immer stärker am Leser nagendes Unwohlsein. Man merkt es nicht gleich, denn Grünberg erzählt entschieden lapidar drauflos. Womöglich weil er eine lapidare Seele im Blick hat. Samarendra Ambani, Sam genannt, ein junger Schweizer, dessen indischstämmiger Vater früh verstarb, hat ein kleines Architekturbüro in Zürich. Bei der Ausschreibung für den Neubau einer Oper in Bagdad gelangt er allerdings überraschend unter die ersten drei und wird vom privaten Bauherren Hamid Shakri Mahmoud in den Irak eingeladen. Seine Freundin Nina hat Bedenken, doch Mahmouds World Wide Design Consortium lässt ausrichten, für Sams Sicherheit sei gesorgt.

Das erweist sich als haltloses Versprechen. Mahmoud fällt einem Anschlag zum Opfer. Sams Bewacher tauchen ab, er selbst steht plötzlich im Verdacht, ein Spion zu sein. Tagelang wird er verhört und mit dem Tod bedroht, bevor sich die Schweizer Botschaft einschaltet. Zurück in der Heimat, überwindet er den Schock nach einer Weile. Das Architekturbüro macht Fortschritte und bekommt den Zuschlag zum Bau einer gewaltigen Bibliothek samt unterirdischem Bunker in Dubai. Sam, abermals gebannt vom großen Kulturauftrag, reist zur Baustelle, steckt aber aufgrund einer Lappalie bald wieder in Schwierigkeiten. Die unterirdische Zelle, in der er, erneut unter Spionageverdacht, festgehalten wird, könnte glatt ein Teil des von ihm geplanten Bunkers sein – wenn der nur schon stünde. Der arme Kerl – wie ist er da bloß reingeschlittert? Eines steht nämlich fest: Ein Spion ist Sam ganz sicher nicht. Er spielt kein falsches Spiel. Oder etwa doch? Vielleicht merkt er es nicht einmal.

Grünbergs radikal unaufgeregte Prosa läuft auf keinerlei überraschende Enthüllung hinaus. Eher auf ein zartes, immer stärker am Leser nagendes Unwohlsein. Denn der zivilisierte, wohlmeinende Sam handelt nur immer wie eine leere Hülle Mensch, die gerade einmal weiß, was sich gehört – im Bett, beim Gespräch und auf der Straße –, die aber von nirgendwoher geerdet, entflammt oder durchblutet wird. Sam hat seinen Kopf zwar mit den richtigen Werten möbliert und auch die eigene Ambition entsprechend ausgepolstert, weshalb er beim ersten Date mit Nina schamlos sagt: »Was ich tue, kann das Glück unzähliger Menschen beeinflussen.« Aber letztlich tappt er ahnungslos durch jedes Gelände, das mit Glaube, Liebe, Hoffnung zu tun hat. Als er ans erste Date zurückdenkt, fasst er zusammen: »Sie war perfekt, so wie ein Architekturentwurf perfekt sein kann. Es gab nichts an ihr auszusetzen.«

Diese nonchalant abscheuliche Parallelführung von Geliebter und Gebäude ist fast schon der ganze Sam: Das einzig Hochfliegende, an dem er sein flaches Wesen aufzurichten vermag, ist die von seinem Mentor Max Fehmer kopierte Überzeugung, dass große Architektur der Menschheit dient. Vom Glanz dieses Leitsatzes meint er insgeheim selbst zu profitieren. Ist er nicht, als Schöpfer guter Architektur, zugleich ein wertvoller Mensch? Aber leider funktioniert die Analogie eher andersherum: Ein Gebäude liefert nur ein Gerüst – es kommt auf das Leben darin an. Weil Sam damit nicht wirklich dienen kann, ist er im Grunde selbst nur ein Gerüst.

Das macht die tiefe, verborgene Ironie von Grünbergs Buch aus: Sam wird letztlich nicht deshalb als Spion verdächtigt, weil er sich tatsächlich schuldig gemacht hätte. Er ist der ideale Verdächtige, weil er seinen vermeintlichen Charakter nie glaubhaft verkörpert hat. Hinter seiner lächerlichen Fassade muss sich folglich eine zweite Identität verbergen. Was in der Schweiz offenbar niemandem auffällt, scheinen die argwöhnischen Iraker und Emirater intuitiv zu erfassen: Der Mann macht uns etwas vor. Dass er sich auch selbst etwas vormacht, wird als mildernder Umstand nicht in Betracht gezogen. Am Ende lässt Sam – in einem durchaus kakfaesken Zug – eine groteske Strafe über sich ergehen, fast als wolle er Buße tun für seine chronisch unterentwickelte Existenz.

»Warum kommt niemand von deinem Glauben zu dir?«, fragt ihn ein Wächter in der Stunde der Not. »Ich bin ein Mann ohne Glauben«, erwidert Sam. Die Frage ist religiös gemeint, die Antwort greift weiter aus. Man mag bedenklich finden, dass es im Roman mitunter so aussieht, als stünden die nicht westlichen Figuren, von traditionellen Banden fest gehalten, noch etwas besser im Saft als die blassen Abendländler (jedweder Hautfarbe). Doch so kurzschlussartig denkt Grünberg nicht. Er öffnet nur das Panorama, hält viele Variablen im Spiel. Und es ist schon erstaunlich, wie dieser Roman trotz seines mausgrauen Tons schließlich geradezu gespenstische Züge gewinnt und wie er trotz seiner Geradlinigkeit immer wieder neue gedankliche Nebengleise eröffnet. Komisch ist er außerdem, wenn auch mitunter auf nahezu schmerzliche Art und Weise. Insbesondere das verdruckste Liebespaar, aber ebenso die Schweizer Botschaftsangestellten hauen menschliche Minderleistungen raus, über die man gleichzeitig lachen und sich fremdschämen muss.