Arnon Grunberg
Deutschlandfunk,
2016-10-17
2016-10-17, Deutschlandfunk

Spielarten der Liebe


Brigitte Neumann

Er ist eigentlich ganz konventionell geschrieben, dieser Roman, aber seltsam, er fliegt einem trotzdem um die Ohren. Das liegt einmal an der ungewöhnlichen Form: "Muttermale" ist ein Ideenroman, etwa so wie Lessings Nathan ein Ideendrama ist.

Lessing verhandelte das Thema Toleranz anhand beispielhafter Figuren aus unterschiedlichen Kulturen, Arnon Grünberg die Liebe am Beispiel eines Novizen, eines Mannes, der sie noch nie erlebt hat und nun überall nach ihr sucht. Vielleicht weil Grünbergs Held Otto Kadoke so gar nicht weiß, was gemeint sein könnte, subsumiert er vieles unter Liebe, was bislang andere Namen hatte: Erniedrigung, Unterwerfung, Abhängigkeit.

Grünberg entkernt den Metabegriff regelrecht. Was er stattdessen als Bedeutung einfüllt, wird den romantischen Leser enttäuschen, den Skeptiker befriedigen. Aber am Ende werden alle etwas behutsamer mit diesem heiklen Begriff Liebe umgehen. Am Anfang steht Otto Kadoke, im verdorrten Garten am Haus seiner Mutter und denkt: "Jahrelang wurde hier alles mit Liebe gepflegt, jedenfalls mit einer Ausdauer und einem Verantwortungsbewusstsein, die von Liebe nicht zu unterscheiden sind. Beharrlichkeit ist auch Liebe - die Weigerung aufzugeben, der entschiedene Unwille zu verlieren, zu sterben: alles miteinander Formen der Liebe."

Viele verschiedene Formen von Liebe

"Ich finde, man sollte die Liebe nicht so verengen und sagen, nur die ganz große romantische Liebe verdient das Wort Liebe. Nein, es gibt auch andere Formen der Liebe, die genauso gültig sind und die genauso wichtig sind. Jeder Grund, um im Leben zu bleiben, ist ein guter Grund. Das kann auch Liebe zum Garten sein. Das brauchen wir gar nicht so lächerlich und traurig zu finden."
Arnon Grünberg, vielfach ausgezeichneter Autor von Romanen, Gedichten, Kolumnen und Reportagen, ist einer der bekanntesten niederländischen Autoren. Der 45-Jährige hat von jeher ein Faible für Figuren, die unfähig sind, das eigene Leben voll zu ergreifen. Zum Beispiel Robert Mehlmann aus dem Roman "Phantomschmerz", der sein Leben bloß spielt. Oder der gestörte Vater von Tirza aus dem gleichnamigen Roman, der nichts hat als seine Tochter, die er umbringt, als sie selbstständig werden will.

Otto Kadoke, der Psychiater in Grünbergs neuem Roman "Muttermale", ist ein Seelenverwandter dieser früheren Protagonisten. Als Angestellter des Amsterdamer Krisendienstes rettet er zwar täglich Leute davor, sich umzubringen. Aber, wie er selbst einmal zugesteht, ist er "ein schlechter Propagandist fürs Leben". Denn außerhalb seiner Arbeit weiß er nichts damit anzufangen. So macht er sich unentbehrlich für Andere, damit er weiß, was er im Leben soll. Und es gibt viel zu tun.

Einzug bei pflegebedürftiger Mutter

Neben der beruflichen Helfer-Tätigkeit wartet auf ihn auch noch die Aufgabe, seine greise Mutter zu versorgen. Weil er die nepalesische Pflegekraft Rosa durch eine Liebesattacke vertrieben hat, muss Kadoke nun selbst ran und zieht wieder zuhause ein - in sein ehemaliges Kinderzimmer. Die Mutter unterdessen setzt ihre erzieherische Arbeit von früher fort. Das heißt im Fall von Kadoke: Sie beschimpft ihn, er sei nicht überlebensfähig, ein Muttersöhnchen, habe kein Rückgrat, lasse sich alles bieten - und das auch noch von Selbstmördern.

Und überhaupt: Es werde sich gewiss niemand finden, der ihn lieben wolle, wenn sie, die Mutter, einmal tot sein werde. Der Psychiater lässt sich alles von der Mutter bieten. Insofern hat sie recht. Aber es gibt einen Grund für Kadokes Wehrlosigkeit. Seine Mutter hat ein halbes Dutzend Konzentrationslager überlebt. Sie putzt ihren Sohn runter, um ihn zu stählen, so hat sie das schon immer gemacht. Und Otto Kadoke gibt sich alle erdenkliche Mühe, den Schmerz nicht zu spüren.

"Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist ja immer auch schwierig, weil man sich nicht wirklich trennen kann. In anderen Beziehungen kann man sagen: Ich trenn mich, das geht so nicht weiter. Eltern und Kind, es fängt ja an mit Abhängigkeit und irgendwie geht es so weiter. Denn es gibt ja immer einen Punkt, wo die Eltern so alt sind, dass sie wieder abhängig sind von den Kindern.
Und, meiner Erfahrung nach, aber das haben ich auch bei Anderen beobachtet: Wenn man sich nicht trennen möchte, dann muss man sich auch abfinden mit gewissen Sachen, die unangenehm sind. Man kann die Leute nicht ändern, und vor allen Dingen kann man die eigenen Eltern nicht ändern. Und ich würde sagen, dass Kadoke begreift, dass diese, man kann es Erniedrigungen nennen, was die Mutter da macht, auch eine Art von Liebe sind."

Grünbergs Mutter ebenfalls KZ-Überlebende

Nun ist es aufschlussreich, das gleichzeitig erscheinende Buch der kürzlich verstorbenen Mutter Hannelore Grünberg-Klein zu lesen, ein Memoire mit dem Titel "Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich keine Zeit dazu". In der Art einer Chronik, die weithin nur Fakten sprechen lässt, beschreibt die gebürtige Berlinerin ihre Odyssee von der gescheiterten Flucht vor den Nazis auf dem Dampfer St. Louis, der in aller Welt abgewiesen wurde, sowie ihre Zeit in Konzentrationslagern in den Niederlanden, in Deutschland, in Polen und in Österreich. (Anmerkung der Redaktion: in einer ersten Fassung war hier von "niederländischen, deutschen, polnischen und österreichischen Konzentrationslagern" die Rede). Sie hat als eine der Wenigen in ihrer Familie den Holocaust überlebt. Im Nachwort erwähnt Arnon Grünberg, dass seine Mutter die Familie manchmal mit den Worten beschimpfte: Ihr seid schlimmer als Auschwitz!

"Für mich war das eigentlich normal. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich das erstaunt hat. Ich kann mich erinnern, dass ich verletzt war, denn es war mir schon als Kind klar, was Auschwitz war. Aber ich hab nie gedacht, meine Mutter liebt mich nicht. Ich hab schon gedacht, ich bin schlimm. Vielleicht dadurch, dass ich schlecht bin und nicht gut und vielleicht Liebe im Allgemeinen nicht verdiene. Aber ich war immer solidarisch mit meiner Mutter. Und ich habe mich nie wirklich getraut, und ich wollte das auch nicht, meiner Mutter das übel zu nehmen und mit meiner Mutter darüber zu streiten."

Die Mutter gibt ihr Trauma an den Sohn weiter. Arnon Grünberg stellt im Interview die Frage, was so schlimm daran sei. Im Roman "Muttermale" heißt es: "Wir sind alle die Fortsetzung von Traumata anderer Leute, Sie, ich - wir sollten aufhören zu glauben, dass es unsere eigenen sind, die uns in unerwarteten Momenten heimsuchen wie Geister."

Die Psychoanalyse lehrt, dass es unter Umständen möglich ist, sich aus traumatischen Erinnerungen zu befreien. Und die Befreiung zum selbstbestimmten und bindungsfähigen Subjekt gilt ja überhaupt als das allgemein angestrebte Ziel der Persönlichkeitsbildung. Grünbergs Protagonist, obgleich vom Fach, sieht das anders: Die Treue zum Trauma der Eltern ist für ihn auch eine Form der Liebe. Allerdings kennt er die Kosten und bilanziert sie im Roman: Angst vor Nähe, Einsamkeit, eine Schachtel Zigaretten am Tag. Als eine Patientin ihn fragt, wie er es denn mit seinen Gefühlen halte, antwortet Kadoke, er erlaube sich kaum welche, habe gelernt, sie zu ignorieren, und dabei wolle er es belassen. Er ist ein ambivalenter Liebessehnsüchtiger, der nervös hin und her flattert zwischen der Angst vor Liebeskummer und der vorgeblichen Sicherheit eines Lebens ohne Begehren.

Praktikum in Psychiatrien zur Recherche

Arnon Grünberg hat zu Recherchen für den Roman "Muttermale" Praktika in mehreren Psychiatrien gemacht. Und es liest sich, als beherrsche er inzwischen den Duktus von Psychiatern und ihre distanziert analytische Perspektive auf Menschen perfekt. Eine eher unfreiwillige Recherche für dieses Buch ergab sich für Grünberg aus der Notwendigkeit, die gebrechliche geliebte Mutter zu versorgen, für die er eine Zeit lang aus New York zurück in sein Elternhaus in Amsterdam zog. "Muttermale" enthält also Elemente der Reportage, der Autobiografie und liest sich manchmal wie die Wiederkehr der Psychoanalyse im Roman als Feind ihrer selbst, weil Kadoke vorführt, wie er sein Persönlichkeits-Vakuum mit der Hilfe schnell wechselnder Deutungstheorien füllt, sich hinter ihnen versteckt.
Der Roman ist aus seiner Perspektive erzählt, aus der eines modernen Zweiflers, der vieles weiß, aber kaum etwas über die eigenen Gefühle. Und weil Arnon Grünberg Otto Kadokes kluge Fragen über die Liebe nicht beantwortet, seine Probleme nicht löst, seine Geschichte nicht rundet, bleibt - und das ist in diesem Fall ein Glück - noch eine Menge für den Leser zu tun. Kein einfaches, kein erhebendes Buch, aber eines, das jeder, der will, für sich produktiv machen kann.