Arnon Grunberg
Die Welt,
2016-10-22
2016-10-22, Die Welt

„Ich habe versucht, mich selbst zu erfinden“


Holger Heimann

Arnon Grünberg ist schwer zu fassen: Er schreibt Romane, macht Theater und berichtet aus Afghanistan und dem Irak. Ein Gespräch über Schlachthöfe, Sexualität und den Embedded Journalism der Kindheit.

Mit seinem krausen dunklen Lockenkopf wirkt der niederländische Schriftsteller Arnon Grünberg trotz seiner 45 Jahre noch immer jungenhaft. Er sitzt unter einem Sonnenschirm vor einer Hotelbar in Gelsenkirchen und nippt entspannt an einem Espresso. Sein Stück „The Future of Sex“ stand während der Ruhrtriennale auf dem Programm – deshalb ist er hier. Ihn zu treffen, war nicht einfach, denn wenn er nicht gerade schreibt, ist er meist unterwegs – zwischen Manhattan, Amsterdam und dem Rest der Welt.

Die Welt: Neulich war zu lesen, Sie seien der fleißigste Schriftsteller der Niederlande. Schlafen Sie wenig?

Arnon Grünberg: Ich versuche, sechs bis sieben Stunden zu schlafen. Ein Gehirnwissenschaftler hat mir erzählt, vier Stunden seien zu wenig und ebenso schlecht für das Gehirn wie zu viel Alkohol. In letzter Zeit musste ich allerdings sehr früh aufstehen, weil ich im Schlachthof gearbeitet habe.

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Die Welt: Was hat Sie denn dazu gebracht?

Grünberg: Viele Leute essen noch immer Fleisch. Ich gehöre dazu. Ich wollte das sehen: Was geschieht, wenn ein Tier getötet wird? Und ich schreibe auch auf, was das in mir auslöst. Der erste Tag war ziemlich schwierig, aber schon am dritten Tag lief ich in meinen Stiefeln rum, als hätte ich das schon drei Monate gemacht. Das war auch beunruhigend.

Die Welt: Was war Ihre Aufgabe?

Grünberg: Ich habe nicht selbst Tiere getötet. Aber ich habe die Haut von Kühen abgezogen und die Innereien aus Schweinen geholt. Ich dachte, vielleicht werde ich zum Vegetarier. Aber das ist nicht passiert. Ich habe jeden Tag einen Kurzbericht über meine Erfahrungen für eine Zeitung geschrieben. Da steht auch der Satz: „Ich war zuvor ein unbewusster Mörder; aus dem Schlachthof bin ich als bewusster Mörder gekommen.“

Die Welt: Sie waren zuvor mit der niederländischen Armee embedded in Afghanistan und mit US-Soldaten im Irak. Was treibt Sie?

Grünberg: Mir wurde vorgehalten, ein Kriegstourist zu sein. Aber dagegen wehre ich mich. Wenn wir Soldaten irgendwo hinschicken, dann gehört es dazu, dass wir schauen, was sie da tun. Das Gleiche gilt für Schlachthöfe. Ich wollte mitbekommen, wie ein Schlachter lebt und denkt. Ich habe mich auch gefragt, wenn ich mit den Schweinen mitgehen würde, ob ich die Welt aus der Perspektive eines Schweins sehen könnte.

Die Welt: Und?

Grünberg: Ein Wissenschaftler hat tatsächlich versucht, wie eine Ziege zu leben. Er hat nur Gras gegessen. Die Bauern sagen, mit Schweinen ist das schwierig, die fressen alles, die kämpfen auch untereinander.

Die Welt: Geht es bei diesen Feldversuchen auch darum, Stoffe für neue Romane zu finden?

Grünberg: Meistens geht es erst mal um journalistische Stücke. Aber ich kann mir vorstellen, dass ich mal in einem Roman etwas über einen Arbeiter im Schlachthof schreibe. Ich habe mal gesagt, Neugier ist der wichtigste Bestandteil des Glücks. Ohne Neugier ist das Leben langweilig, weniger befriedigend. Manchmal sehne ich mich auch danach, einfach nur vier Monate an einem Ort zu sein, zu lesen, zu schreiben, zu wandern. Aber vielleicht habe ich einfach zu viel Unruhe in mir. Das Konzept des Embedded-Seins hat mich auch gereizt. Das kann man so weit führen, wie man möchte.

Die Welt: Der Held Ihres neuen Romans ist Psychiater. War es die Buchidee, die Sie dazu gebracht hat, sich selbst in die Psychiatrie einweisen zu lassen?

Grünberg: Die Frage, was Normalität und was Krankheit ist, hat mich schon lange beschäftigt. Das war der grundlegende Impuls für mich. Mit den Ärzten hatte ich verabredet, dass sie mich wie einen Patienten behandeln und ich aufschreibe, wie ich diese Sorge erfahren habe. Umgekehrt sollten sie auch über mich berichten. Ein Psychologe hat mir dann ein Angstsyndrom unterstellt. Das hat viel Eindruck auf mich gemacht. Diese Aussage gegenüber einem Schriftsteller: Sie haben das Leiden nicht gesehen oder sind davor geflohen. Und Sie selbst sind eigentlich auch krank. Das war der Anfang meines Romans.

Die Welt: Ihre Hauptfigur Otto Kadoke ist aber nicht nur Psychiater, sondern auch Sohn. Sie sind während der letzten Lebensjahre Ihrer Mutter wieder bei ihr eingezogen. Wie viel Kadoke steckt in Ihnen?

Grünberg: Uns beide verbindet eine Professionalität. Die Arbeit ist das Wichtigste für ihn. So lebt er, und so schützt er sich vor dem Leben. Das ist etwas, womit ich mich ganz gut identifizieren kann. Gleichzeitig sehe ich die Nachteile. Aber ich hoffe, dass ich nicht so ängstlich bin wie Kadoke.

Die Welt: Sie reden über den Psychiater. Was ist mit dem Sohn?

Grünberg: Wenn ich über Kadoke nachdenke, dann über ihn als Psychiater. Da kann man sagen: Es gibt eine Verdrängung. Der Schriftsteller hat verdrängt, dass der Mann auch Sohn ist.

Die Welt: Sie haben gesagt, nach den Aufenthalten in Afghanistan und Irak sei es Ihnen als der nächste logische Schritt erschienen, bei Ihrer Mutter einzuziehen. Wie meinen Sie das?

Grünberg: Meine Mutter hat sich geändert, aber sie war eine schwierige, aggressive Frau. In diese Wohnung zu gehen, das fühlte sich einfach an wie eine Kriegserfahrung. Ich dachte, wenn ich unter diesen Soldaten leben konnte, dann solle es auch mit meiner Mutter gelingen. Es ging dann ganz gut. Es war einfach nicht nötig, wieder in diese pubertäre Phase zu fallen, wo man glaubt, sich ständig wehren zu müssen.

Die Welt: Wie stark hat es Sie geprägt, Kind von Holocaust-Überlebenden zu sein?

Grünberg: Das ist eine schwierige Frage. Man weiß nicht, wie die Eltern ohne diese Erfahrungen wären. Meine Mutter hat immer darauf bestanden, nicht nur als Holocaust-Überlebende betrachtet zu werden. Auch für mich gilt: Ich möchte nicht, dass es das Wichtigste ist. Ich bin viel mehr als das. Und ich möchte viel mehr sein.

Die Welt: Lässt sich das so einfach bestimmen?

Grünberg: Nein, aber man soll sich auch nicht völlig hingeben und sagen: Die Götter haben etwas für mich bestimmt, und ich kann mich nicht dagegen wehren. Die Freiheit ist begrenzt. Aber die Illusion, dass man sich selbst neu erfinden kann, ist für mich sehr wichtig. Auch wenn ich weiß, dass es Begrenzungen gibt, sehr viele.

Die Welt: Ist Ihr Leben auch der Versuch, solchen Festlegungen zu entkommen?

Grünberg: Das hört sich vielleicht ein wenig zu dramatisch an, aber ich würde doch sagen, ja. Ich habe die Schule vorzeitig verlassen und die Träume meiner Eltern vernichtet. Ich bin kein Wissenschaftler geworden und kein Anwalt. Ich wollte nicht das Leben, das sich meine Eltern für mich vorgestellt haben und nicht so werden wie sie. Etwas anderes mit meinem Leben zu tun, war auch ein Abschied von der Geschichte meiner Eltern. Ich habe mich zunächst als Schauspieler versucht, letztlich bin ich dann Schriftsteller geworden.

Die Welt: Trotzdem standen Sie in Essen in Ihrem Stück „The Future of Sex“ abermals auch selbst auf der Bühne.

Grünberg: Das Schöne an diesem Stück ist, dass ich improvisiere. Es gibt da auf der Bühne ein Interview mit mir. Die Fragen stehen zwar fest, aber die Antworten nicht.

Die Welt: Schon in Ihrem Debütroman „Blauer Montag“ spielt das Begehren eine zentrale Rolle. Für Sie scheint es ein unerschöpfliches Thema zu sein.

Grünberg: Wir sind Maschinen, die nicht aufhören können zu begehren. Ich glaube, dass wir so den Kapitalismus unterstützen, nicht ohne Grund leben wir alle in einer kapitalistischen Welt. Ich will nicht sagen, dass der Kapitalismus zum Menschen gehört, aber wir können uns da gut reinfinden.

Die Welt: In einem Nachwort zu den jetzt erschienenen Lebenserinnerungen Ihrer Mutter Hannelore Grünberg-Klein schreiben Sie: „Meine Mutter und ihr Buch sind das Zentrum, alles andere ist Beiwerk. Mein Oeuvre ist eine Fußnote zu diesem Buch und zum Leben meiner Mutter.“

Grünberg: Ich habe versucht, mich selbst zu erfinden. Aber ab einem bestimmten Punkt musste ich verstehen, dass das nicht ganz gelungen ist, dass ich Sohn meiner Mutter bleibe – und Sohn ihrer Geschichte. Als ich das Nachwort geschrieben habe, war das Gefühl sehr stark, dass die Flucht nicht gelungen war. Ich glaube, dieser ganze Ehrgeiz, den man braucht, um Schriftsteller zu werden, hat auch mit dem Ehrgeiz meiner Eltern zu tun, das ist nicht unabhängig von ihrer Geschichte. Ich habe dieses Nachwort kurz nach dem Tod meiner Mutter geschrieben, vielleicht würde ich das heute zurückhaltender formulieren. Aber da steckt viel Wahrheit drin. Ich war embedded, meine Mutter war nicht embedded – das ist der Unterschied. Da gibt es einen Fluss, den man nicht überqueren kann.

Die Welt: Sie leben seit 1995 in New York. Betrachten Sie sich trotzdem nach wie vor als niederländischer Schriftsteller?

Grünberg: Ich bin ein europäischer Schriftsteller. Ich habe mich nie wirklich mit Holland identifiziert – außer vielleicht mit der Sprache und mit Amsterdam. Für meine Eltern war das Land keine Heimat und so ist es auch für mich keine geworden. Beide haben immer gesagt, wir sind hier zufällig hingekommen. Mein Vater hat nur deutsche Zeitungen gelesen, deutsches Radio gehört. Das Haus meiner Eltern war nicht holländisch, es war auch nicht deutsch. Es war etwas dazwischen.

Die Welt: Fühlen Sie sich unterwegs am wohlsten?

Grünberg: Ich finde das Wort Hotelmensch sehr sympathisch. Ich möchte das Vaterlandslose als Ideal betrachten. Wenn man so lebt, braucht man die anderen nicht als Fremde zu sehen.