Arnon Grunberg
General Anzeiger,
2021-04-21
2021-04-21, General Anzeiger

Gefallener Psychiater


Dietmar Kanthak

Wer auf der letzten Seite des 2016 erschienenen Romans „Muttermale“ von Arnon Grünberg angelangt ist, fühlt sich dankbar und unerfüllt zugleich. Die Geschichte von Oscar Kadoke, seiner gebrechlichen Mutter und der selbstmordgefährdeten Patientin Michette, die der „grenzüberschreitende Psychiater“ mit einer von ihm ersonnenen „alternativen Therapie“ behandelt, ist geistreich erzählt und bewegend, wechselweise todernst und genussreich komödiantisch.

Schriftsteller wie der 1971 in Amsterdam geborene Grünberg, die einen solchen Hochseilakt virtuos absolvieren, sind selten; deshalb das Gefühl von Dankbarkeit. Gleichzeitig entdeckte der Leser die Möglichkeiten von „Muttermale“. Kadokes Geschichte war noch nicht auserzählt, bot Stoff für eine Fortsetzung. Es erschien jedoch zweifelhaft, dass ein so vielseitig interessierter und begabter Autor wie Grünberg sich noch einmal auf diese Figur und ihr komplexes Seelenleben einlassen würde.

Man soll die Hoffnung nie aufgeben. Jetzt, fünf Jahre später, ist Grünberg tatsächlich mit „Besetzte Gebiete“ (Kiepenheuer & Witsch, 431 S., 24 Euro) auf Oscar Kadoke zurückgekommen. Kadoke sieht sich wieder mit familiären, libidinösen, beruflichen, religiösen und grundsätzlich existenziell herausfordernden.

Problemen konfrontiert. Michette hat einem Autor von Kadokes „alternativer Therapie“ erzählt, der Vorgang findet Aufnahme in einen Schlüsselroman, den darauf folgenden Skandal überlebt der, wie er sich anschließend sieht, „gefallene Psychiater“ beruflich nicht. Sein Vater, der inzwischen Geschlecht und Identität der verstorbenen Mutter angenommen hatte, entwickelt sich wieder Richtung Mann. Die Affäre mit einer entfernten Cousine aus dem Westjordanland motiviert den frustrierten, sich wurzellos fühlenden Kadoke dazu, Amsterdam zu verlassen und Anat in ihre Heimat zu folgen. Mit dem widerstrebenden Vater lässt er sich im Westjordanland nieder. Dort wird der Atheist Kadoke mit dem orthodoxen Judentum in besetzten Gebieten konfrontiert, mit überraschenden Nachwirkungen des Nationalsozialismus – und mit bis dahin unausgelebten homosexuellen Impulsen.

Grünbergs gestalterische Meisterschaft hält all diese Erzählstränge in perfekter Balance. Stilistisch erscheint „Besetzte Gebiete“ als humorvolle Familiengeschichte, schmerzhaft-intensive Lovestory und essayhafte Reflexion. Zum Schluss sieht Kadoke Michette wieder. Sie hat einen Song für ihn geschrieben, er heißt „Scheißpsychiater“. Der Beginn eines neuen Kapitels von Kadokes Geschichte?