Arnon Grunberg
Ö1 Morgenjournal,
2021-05-16
2021-05-16, Ö1 Morgenjournal

Kampf der Meinungen im Roman von A. Grünberg


Wolfgang Popp

Der neue Antisemitismus in den Niederlanden und der alte Fundamentalismus der jüdischen Siedler im Westjordanland und dazwischen ein Amsterdamer Psychiater in einer Lebenskrise. In seinem neuen Roman "Besetzte Gebiete" stellt der niederländische Bestsellerautor Arnon Grünberg brennende Fragen zur aktuellen Lage und entdeckt dabei das Absurde im Tragischen.

Eine suizidgefährdete Patientin als Pflegerin für den eigenen Vater zu engagieren und bei sich zu Hause aufzunehmen, sieht der Psychiater Kadoke als eine, wenn auch ungewöhnliche, Form der Therapie. Die Ärztekammer ist da anderer Meinung und belegt ihn mit einem lebenslangen Berufsverbot.

Ein Schriftsteller greift den Fall auf und packt ihn in einen Roman. Die Sache wird damit einer breiten Öffentlichkeit bekannt, was einen ungeahnten Shitstorm auf Kadoke heruntergehen lässt. "Da kommt noch eine Schadenfreude dazu. Und auf den sozialen Medien läuft ein Volksgericht ab, das wirklich gruselig ist", so Arnon Grünberg, der zu Beginn seines Romans ins Auge dieses fiktiven Shitstorms blickt und dessen Mechanismen und Eigendynamiken nachzeichnet.

Der blinde Fleck Vergangenheit
Dass Kadoke jüdischer Abstammung ist, öffnet außerdem sofort Tür und Tor für die schlimmsten antisemitischen Ressentiments. "Ich glaube, da gibt es eine Art Hemmungslosigkeit und eine Lust am Tabubruch", so Arnon Grünberg. "Die Vergangenheit wird einfach nicht mehr wahrgenommen. Was einmal war, sagen sich da viele, hat nichts mit uns zu tun."

Zum Paria gestempelt und bedroht, trifft Kadoke zufällig eine entfernte Verwandte wieder und verliebt sich in sie. Das Problem an der Sache: Während er säkular ist und der jüdischen Siedlungspolitik höchst kritisch gegenübersteht, ist diese Anat orthodox und lebt in einer Siedlung im Westjordanland.

In ihren Gesprächen ringen sie mit ihren völlig konträren Ansichten um gegenseitiges Verständnis, ein unserer Gegenwart weitgehend fremd gewordenes Szenario: Dementsprechend ungewohnt, ja beunruhigend lesen sich diese Stellen dann auch. Arnon Grünberg: "Wenn ein Leser verstört ist, finde ich das ganz gut. Es ist ja auch verstörend."

Reale Hintergründe
Wie sein Protagonist Kadoke ist auch Arnon Grünberg säkularer Jude, seine Schwester ist jedoch, genau wie Anat, eine jüdisch-orthodoxe Siedlerin. Das Verhältnis zu ihr, so Grünberg, sei immer wieder eine Herausforderung: "Für dieses Buch habe ich im Dezember 2018 zwei Wochen in einer jüdischen Siedlung gelebt, im Haus meiner Schwester. Das hat mir nicht nur beim Schreiben geholfen, sondern auch dabei, die Position meiner Schwester besser zu verstehen."

Recherche ist für Arnon Grünberg zentral. Er muss an den Schauplätzen seiner Geschichte gelebt und seine Figuren von innen verstanden haben, um seine Romane zu schreiben. Das gilt auch für seinen Protagonisten, den Psychiater und Psychotherapeuten Kadoke. "2013 habe ich zwei Wochen lang zusammen mit den Patienten in einer psychiatrischen Anstalt in Belgien gelebt, den Alltag miterlebt und darüber geschrieben", erzählt Grünberg. "Und für dieses Buch habe ich zwei Wochen lang den Krisendienst in Rotterdam begleitet."

Tragischer Slapstick
Kadoke zieht mit seinem greisen Vater zu seiner Verlobten ins Westjordanland, und Arnon Grünberg weiß die Fremdheit, die sein Kadoke dort empfindet, ins Absurde zu überdrehen. So etwa, als sich die Schwiegermutter kurz vor der Heirat daran macht, die Potenz ihres zukünftigen Schwiegersohns zu testen. "Wenn man das Groteske zeigen will, und das wollte ich", so Arnon Grünberg, "und wenn man die Absurditäten, die innerhalb des Tragischen bestehen, zeigen will, dann kommt man um Slapstick nicht herum."

Verrücktes Lachen
Der Roman "Besetzte Gebiete" schaut dorthin, wo im Menschen das Private und das Politische zusammenkommen. Was ist Meinung und wieviel Meinung ist der Mensch, fragt Arnon Grünberg in seinem neuen Buch, und weiß diese Frage nicht nur in tiefschürfende Dialoge zu packen, sondern auch in aberwitzige Szenen, aus denen man nur mit einem verrückten Lachen wieder herauskommt.