Arnon Grunberg
Tagesspiegel,
2021-07-06
2021-07-06, Tagesspiegel

Dem Palästinenser in die Arme


Katrin Hillgruber

Kann es einen sympathischeren Romanhelden als diesen Mann mit rudimentärem Vornamen geben? Wohl kaum. Der Amsterdamer Psychiater Kadoke ist ein rundum liebenswerter Mensch: sensibel, mitfühlend und dabei ein allen Ideologien abholder, witziger Freigeist.

Zugleich wahrt er eine „ewige“ Distanz, was er sich selbst vorwirft. Seinen Vornamen Otto nach Otto Frank, Vater von Anne Frank und Freund der Familie Kadoke, mag er nicht. Deshalb lässt er sich Oscar oder O. nennen, am liebsten aber nur Kadoke: „Die Betonung liegt auf dem ‚e‘ wie in ‚ade‘ oder ‚juchhe‘, nicht auf der vorletzten Silbe, Kadóke. Manche Leute sprechen es hartnäckig falsch aus. Unbelehrbar.“

Die Mutter des Autors überlebte vier KZs

Arnon Grünbergs Leserschaft kennt den Protagonisten Kadoke bereits aus dem Roman „Muttermale“ von 2016. Darin ging es um die rührende Sorge des Einzelkindes „Oskar“ Kadoke um seine Mutter, die als einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt hatte.

Parallel zu „Muttermale“ erschienen mit „Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich dazu keine Zeit“ (aus dem Niederländischen von Marianne Holberg) die Erinnerungen von Hannelore Grünberg-Klein, der Mutter des Autors. Die gebürtige Berlinerin des Jahrgangs 1927 hatte als einzige ihrer Familie vier Konzentrationslager überlebt. Kurz nach ihrem Tod 2015 wurde ihr bewundernswert unsentimentaler Lebensbericht mit einem Nachwort des Sohnes publiziert.

Die Lektüre von „Muttermale“ ist allerdings keine zwingende Voraussetzung, um Grünbergs neuen Roman „Besetzte Gebiete“ zu genießen. Rainer Kersten hat seinen niederländischen Stammautor wiederum vortrefflich ins Deutsche übersetzt. Trotzdem unterlaufen ihm grammatikalische Schwankungen, etwa wenn der Gebrauch von „wegen“ zwischen dem korrekten Genitiv und dem plumpen umgangssprachlichen Dativ wechselt („wegen des Klimas, wegen der Unterbringung und dem Terrorismus“). Das Niederländische kennt den Genitiv ja leider nur noch als historische Reminiszenz.

Fürsorglich und humorvoll kümmert sich der geschiedene Mittvierziger Kadoke um seinen hochbetagten, charakterlich ambivalenten Vater. Nach dem Tod seiner Frau hat er mittels Kleider und einer Perücke deren Identität angenommen und behauptet trotzig, die „Mutter“ zu sein. Kadoke ist als Angestellter des Amsterdamer Krisendienstes außerdem rund um die Uhr für seine suizidgefährdeten Patienten da, getreu der Überzeugung: „Heilen ist eine gnadenlose Tätigkeit, ob die Heilung nun gelingt oder nicht.“

Zu Beginn des Romans hat Kadoke seinen Mutter-Vater in einer Pension an der Nordseeküste namens „Die Meerjungfrau“ untergebracht, einem Zweckbau, der seinem romantischen Namen nicht gerecht wird. Es handelt sich um das Elternhaus von Kadokes Langzeit-Patientin Michette. Er hat sie davor bewahrt, ihr Leben durch das Trinken von Putzmitteln zu beenden und als Betreuerin für den Vater engagiert.

Doch die impulsive Michette, deren Annäherungsversuche er aus seinem Berufsethos heraus hartnäckig ignoriert, dankt ihm die unorthodoxe Therapie nicht. Offenbar aus Rache geht sie eine Liaison mit einem windigen Sensationsschriftsteller ein. Ihn legt Grünberg als Karikatur seines Berufsstandes an: „Dieser Mann erfüllt ihn mit Abscheu und einer leichten Furcht, weil er die Macht des Wortes besitzt, die der Berühmtheit, die Macht, den anderen ebenso achtlos zu vernichten, wie ein Jäger einen Fasan erschießt.“

Prompt veröffentlicht der Schriftsteller einen Schlüsselroman über einen Psychiater, der eine labile Patientin in ein sexuelles Abhängigkeitsverhältnis zwingt. Das Buch „Walvisch und die Therapie“ löst ein gewaltiges Medienecho aus und wird sogar für einen Literaturpreis nominiert. Ein Sturm der Empörung bricht los, als Michette den Namen des unschuldigen Kadoke in einer Talkshow fallen lässt.

Kadoke versucht, den haarsträubenden Verdacht, in den sich antisemitische Untertöne mischen, unter anderem durch einen Zeitungsartikel richtig zu stellen. Doch alle Verteidigungsversuche schlagen fehl, er verliert seine ärztliche Approbation. Anhand des „Menschenopfers“ Kadoke karikiert Grünberg die Auswüchse der Me-Too- und Identitäts-Debatten. So ermahnt Kadoke seinen Vater, sich nicht die Identität eines Albinos anzumaßen, als sich der alte Mann weigert, das klimatisch gemäßigte Holland zu verlassen.

Grünbergs Schwester lebt in einer zionistischen Siedlung

In seiner tiefen Existenzkrise erscheint dem agnostischen Protagonisten als rettender, wenn auch ziemlich aufdringlicher Engel eine entfernte Verwandte aus Israel. Die rotblonde Mathematikerin Anat ist eine glühende Zionistin, die mit ihrer Mutter im israelisch besetzten Westjordanland lebt.

Vorsichtig gibt er zu bedenken, dass sie und die Ihren ein Gebiet bewohnten, das Ihnen nicht gehöre: „Da musst du dich nicht wundern, wenn die ursprünglichen Bewohner zu harten Maßnahmen greifen, um ihren Protest zum Ausdruck zu bringen, umso mehr, als die Verhandlungen bisher wenig gebracht haben.“ Der 1971 in Amsterdam geborene Romancier und Journalist, der zwischen seiner Heimatstadt und New York pendelt, weiß sehr genau, worüber er schreibt, schließlich lebt seine eigene Schwester in einer zionistischen Siedlung.

Wie von Sinnen folgt Kadoke Anat, den widerstrebenden Vater im Schlepptau, in die Besetzten Gebiete: „Er, Kadoke, der im Stoizismus die einzig wahre Lebensauffassung gesehen hatte, musste erst fallen, tief fallen, um hoffen, sich sehnen zu können. Auf Anat hat er gehofft, auf das Wiedersehen, auf das Verschwinden von Großbuchstaben aus ihren E-Mails, etwas, worin er einen Liebesbeweis sehen könnte. In seiner Vorstellung war Anat auch schöner: Sie hat mehr Falten, ihre Haut ist rauer, ihr Haar dünner, als er es in Erinnerung hat, aber vielleicht gibt sich das wieder, wenn er erst einige Zeit mit ihr zusammen ist.“

Die Wüste als Kulturschock für die Europäer

Sein Verlangen nach einer Lebenswende veranlasst Kadoke, sich selbst Scheuklappen anzulegen. Er leugnet seinen analytischen Verstand und seine Überzeugungen. Wie lange kann das gut gehen? Das ist die zentrale Frage des Romans, aus der er außerdem einen Gutteil seiner Tragikomik bezieht. Denn in der Wüste erleben die beiden Europäer einen heftigen Kulturschock, den der Autor lustvoll mit allerhand grotesken Details ausschmückt.

So halten es die Orthodoxen in Erwartung des Paradieses auf Erden nicht unbedingt mit der Sauberkeit, wie Kadoke ernüchtert feststellen muss. Wie fern ist das zivilisierte Europa, wenn man in einem Campingwagen leben und bei Neonlicht halbgare Hühnerschenkel von Plastiktellern essen muss! Zur Verzückung der Dorfgemeinschaft heiratet Kadoke das „späte Mädchen“ Anat. Lammfromm lässt er sich von deren bigotter Mutter tyrannisieren, die seine Potenz überprüfen will, schließlich ist Kinderreichtum für die orthodoxen Siedler das Wichtigste. So wird der unendlich duldsame Romanheld selbst zu einer Art besetztem Gebiet für die Wünsche und Projektionen seiner – vor allem weiblichen - Mitmenschen. Offenbar ist es die „Versuchung der Selbstzerstörung“, die er bei Michette diagnostiziert hat, die ihn nun selbst in der Einöde ausharren lässt.

Der noch so aufgeklärte und modern denkende Einzelne kann nicht ohne Gemeinschaft leben, lautet eine Erkenntnis dieses so schreiend komischen wie zutiefst humanen Buches, das besonders vor dem Hintergrund des jüngsten Gaza-Israel-Konflikts einen ergreifenden Appell an Humor und Toleranz darstellt.