Tirza
Mari Lang
Arnon Grünberg galt lange Zeit als Enfant Terrible der niederländischen Literaturszene - Schulabbruch, Jobs als Tellerwäscher und Apothekenhelfer, und dann gefeiertes Romandebüt mit nur 23 Jahren. Doch jedes Kind wird irgendwann erwachsen. Spätestens, wenn es aus dem Haus geht. Der 37-jährige Amsterdamer zog vor einigen Jahren nach New York, erlebte den 11. September und seine Nachwehen und wurde ein anderer. Seine Geschichten wirken seither ernsthafter, seine Figuren noch verlorener und paranoider als früher. Eine zeitlang entstand der Anschein, der wortgewandte Autor stecke in einer Art Post-9/11-Blase, die seiner Profession gar nicht gut tat. Seine beiden vorhergehenden Bücher "Der Heilige des Unmöglichen" und "Gnadenfrist" trugen die zu große Last der Tragödie. In seinem aktuellen Roman "Tirza" beweist Grünberg jedoch, dass er sein Talent nicht verloren, sondern sogar noch perfektioniert hat.
Alles verloren
Der Erzähler, Jörgen Hofmeester, ist Ende fünfzig und hat ein hübsches Haus in der besten Straße von Amsterdam. Mehr nicht. Seine Frau ist mit ihrer Jugendliebe durchgebrannt, seine älteste Tochter spricht nicht mehr mit ihm, seinen Job in einem renommierten Verlag ist er auch los, und in Kürze verlässt sein Lieblingskind Tirza das Elternhaus. Nach dem Schulabschluss will sie mit ihrem Freund auf Weltreise gehen. Alles was Hofmeester noch bleibt, ist die Abschlussparty. Und auf die bereitet er sich akribisch vor.
Psychologische Studie
Zwischen dem Zubereiten von Sushi und dem Kühlen von feinem italienischen Wein erzählt Arnon Grünberg die Geschichte eines ziellosen, lethargischen Mannes, der nie zu leben gelernt hat. Stets getrieben von den Idealen, die ihm die Gesellschaft einimpft, häuft er Reichtum an und konzentriert sich ausschließlich auf Oberflächlichkeiten. Emotionen sind für ihn nicht nur ein Fremdwort sondern bedeuten Gefahr. Nicht einmal als seine jüngste Tochter Tirza an Essstörungen erkrankt und in eine Klinik kommt, kratzt er die Gefühlskurve. Wie eine stets gut gekleidete und glatt polierte Gummipuppe stapft er durch sein trostloses Leben und verläuft sich immer mehr in der Vaterliebe. Tirza ist sein einziger Lebensinhalt, für sie da zu sein, seine einzige Existenzberechtigung.
Method-Man
Arnon Grünberg erzählt die Geschichte ausschließlich aus den Augen von Jörgen Hofmeester und macht die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung seines Helden und der objektiven Wirklichkeit gekonnt deutlich. Immer wieder lässt er Hofmeester scheitern und völlig absurde Dinge tun, ohne sich je über ihn lustig zu machen. Nachdem der obsessive Vater von seinem Job freigestellt wird, verbringt er seine Tage am Flughafen, fremden Menschen zuwinkend und lesend. Anstatt seine Frau, die eines Tages wieder vor der Tür steht, rauszuwerfen, lässt er sich von ihr erniedrigen und nimmt sie wieder in der Wohnung auf. Dieser Mann ist durch und durch ein Versager. Doch bereits nach wenigen Seiten hat man ihn lieb gewonnen, weil er so spürbar und zum Greifen nahe wirkt. Das liegt wohl daran, dass sich Arnon Grünberg wie ein Schauspieler auf seine Figuren vorbereitet und einlässt. Seine Romane entstehen in einer Art literarischem Method-Acting, bei dem sich der Holländer gelegentlich auch Extremsituation aussetzt. Zuletzt bereiste er etwa Afghanistan, um Gefühle wie Angst am eigenen Leib zu erfahren. Teilweise hat er diese sicherlich auch rund um den 11. September 2001 erlebt, der auch in dieser Geschichte wieder präsent ist.
Immer wieder Atta
Wie eine Glucke versucht die Hauptfigur Hofmeester seine Tochter zu beschützen und sieht in seiner Paranoia selbst in ihrem Freund eine Bedrohung. Für den besorgten Vater ist Tirzas muslimischer Freund eindeutig einer der Drahtzieher von 9/11 - Mohammed Atta. Ausländer kommen generell in der Geschichte nicht sehr gut weg und werden permanent als Bedrohung erlebt. Auch wenn das mitunter beim Lesen bitter aufstößt, passt es nur zu gut zum Charakter des biederen Hofemeester, der sich selbst sehr treffend als "Produkt der Zivilisation und der Kultur" beschreibt.
Das Komische im Psychothriller
Wie in allen Grünberg Romanen überwiegt trotz der enormen Dramatik auch hier das Komische. Immer wieder muss man laut auflachen, und immer wieder bleibt einem das Lachen dann im Hals stecken. Grünberg gelingt es, den Leser derart stark in seine Geschichte hineinzuziehen, dass man ihr auch dann noch bereitwillig folgt, wenn Hofmeester gegen Ende durch Afrika irrt und die Handlung ins Schräge kippt.
Im Gegenzug zu seiner Hauptfigur, die alles verloren hat und selbst beim Versuch, sich das Leben zu nehmen, scheitert, ist Arnon Grünberg dieses Mal alles gelungen. Nicht nur, dass er in "Tirza" all das macht, was er am besten kann - eine malträtierte Männerseele aufs Silbertablett legen, sie mit Wahnsinn ausstatten und auf die Suche nach Glück und dem Sinn des Lebens schicken. Nein, er garniert das Ganze noch mit den Zutaten eines Psychothrillers und schlägt damit einen Weg ein, auf dem er ruhig noch einige Jahre weiterwandern könnte.