Das Tier in mir
Thomas Askan Vierich
Nach seinem brillanten Roman „Phantomschmerz“ hing der Niederländer etwas durch, aber nun hat Arnon Grünberg sich selbst übertroffen. Sein neuer Roman handelt von übertriebener Vaterliebe. Jörgen Hofmeester, Ende fünfzig, wird von seiner Frau verlassen und erzieht seine jüngste Tochter „Tirza“ allein. Darin geht er völlig auf. Bis nach drei Jahren die Ehefrau plötzlich wieder vor der Tür steht. Erzählt wird aus der Perspektive des Vaters und wie neurotisch dieser verklemmte, vor dem Leben auf allen Ebenen versagende Erzähler ist, wird einem erst bei fortschreitender Lektüre klar. Und dennoch hat man ihn am Ende liebgewonnen, kann seine schräge Weltwahrnehmung, seine Besserwisserei, seine alles erdrückende Tochterliebe fast verstehen. Seit er von seinem Verlag nach dreißig Jahren als Lektor bei laufenden Bezügen freigestellt wurde, hat er kaum etwas zu tun. Sie sind froh, ihn los zu sein. So geht es fast allen mit Hofmeester. Selbst seine Tochter flüchtet in eine Essstörung, die „Krankheit des Mittelstandes“, wie es Tirzas Psychiater formuliert.
Grünberg erzählt in aller Ruhe und doch gnadenlos witzig von den abstrusesten Situationen: Bei der Geburtstagsparty der 18-jährigen Tirza reicht Hofmeester selbstgemachte Sushis, und seine aus dem Leim gehende Gattin tanzt zur Belustigung der Teenager halbnackt auf dem Tisch; er selbst flüchtet in den Schuppen zu einer depressiven Klassenkameradin seiner Tochter und hat mit ihr eher zufällig schlechten Sex, bei dem er prompt von Tirza und einer Lehrerin ertappt wird.
Hofmeester ist der Meister im Verdrängen. Was nicht in sein spießiges Weltbild passt, blendet er aus. Und es gibt fast nichts, was dort hineinpasst. Dennoch stellt Grünberg seinen Protagonisten nicht als Freak bloß. Hofmeester hat seinen Platz im Leben nie gefunden. „Ich bin ein Produkt der Zivilisation und der Kultur“, ruft er einmal. „Ich bin, was passiert, wenn man die Zivilisation auf das Tier loslässt. Das bin ich. Nie habe ich was anderes sein wollen als zivilisiert.“ Vor diesem Tier tief in ihm drin hat er am meisten Angst. Zu Recht, wie man am tragischen, anrührenden Ende dieses bei aller Leichtigkeit unglaublich dicht und komplex erzählten Romans erfährt.