Arnon Grunberg
hr-online,
2008-07-21
2008-07-21, hr-online

Alt und verlassen


Andreas Dickerboom

Was passiert, wenn ein Vater sein ganzes Leben seinen Kindern widmet? Arnon Grünberg liefert uns mit "Tirza" das erschütternde Psychogramm eines Vaters, der sich von seiner Tochter nicht trennen kann.

Als seine jüngste Tochter nach dem Abschluss des Abiturs auf Afrikareise gehen und dem elterlichen Haus den Rücken kehren will, steht Jörgen Hofmeester, Ende 50, vor dem Nichts: "Der Rest seines Lebens liegt vor ihm. Wie eine Wüste."

Was für eine Zukunft hat ein Mann, der sein ganzes Leben seinen beiden Töchtern gewidmet hat, von seiner Frau verlassen wurde, und wenige Jahre vor der Rente von seiner Lektoratstätigkeit in einem renommierten Amsterdamer Verlag entbunden wird, weil er zu alt ist? Vor allem: Was für eine Zukunft kann einer haben, der keine Vergangenheit hat? Denn - das wird in diesem furiosen Roman des in New York lebenden Niederländers Arnon Grünberg gnadenlos seziert - Hofmeester ist ein Mann ohne Eigenschaften, der nie ein eigenes Leben gelebt hat.

Psychogramm eines Verlierers

Tirza, 18 Jahre jung und die "Sonnenkönigin" ihres Vaters, gibt nach dem Abitur und kurz vor ihrer Afrikareise, eine große Party. Ein letztes Mal die Gelegenheit für Hofmeester, den perfekten Vater und Gastgeber zu spielen. Doch das Fest wird zu einem Fiasko, nachdem Tirza ihren Vater mit der Mitschülerin Ester in eindeutiger Situation im Schuppen erwischt. Hofmeesters Leben ist längst aus dem Ruder gelaufen. Das liegt nicht nur daran, dass er arbeitslos ist und - um den Schein zu wahren - jeden Tag mit seiner Aktentasche zum Flughafen Schiphol fährt.

Auch die plötzliche Rückkehr seiner mit einem Hausbootbesitzer durchgebrannten Ehefrau macht ihm zu schaffen. Die Mutter seiner beiden Kinder, bezeichnenderweise ohne Namen und im Roman durchgängig "die Ehefrau" genannt, kehrt ins Haus zurück, als sei nichts gewesen. Und der Ehemann hat nicht die Kraft, die Frau, die ihn mit den Kindern sitzen ließ, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, wieder rauszuschmeißen.

Leidenschaft im Mittelpunkt

Nach wie vor dreht sich bei Hofmeester alles um seine Tochter. Nachdem die ältere der Geschwister, Ibi, dem Würgegriff des omnipräsenten Vaters entkommen konnte, in dem sie nach Südfrankreich zog, konzentriert sich alles auf Tirza. Hofmeester wird nicht müde, sie vor aller Welt als "extrem hochbegabt" darzustellen, liest ihr schon als junges Mädchen aus Tolstoi vor, bringt sie zum Cello- und Schwimmunterricht, bekocht sie und lässt dem bedauernswerten Kind kaum Luft zum Atmen.

Mit Liebe, wie es der Vater gerne darstellt, hat dies allerdings wenig zu tun. Er versagt völlig, als seine Tochter Essstörungen bekommt, weil sie mit den übertriebenen Erwartungshaltungen des Vaters nicht zurecht kommt. Denn Hofmeester ist ein Psychopath, dessen emotionale Ebene völlig verkümmert ist. Häufig läuft es einem beim Lesen kalt den Rücken herunter, wenn Grünberg das Psychogramm eines seelisch kranken Menschen entwirft. Während beispielsweise die Ehefrau ihm den Scherbenhaufen ihrer Ehe präsentiert, konzentriert er sich auf einen Mückenstich auf seiner Haut. Hofmeester ist nicht in der Lage, mit anderen Menschen über ihre Gefühle zu reden. "Das Gefühl ist ein Glaube, der überwunden werden muss".

Das Tier im Manne

Aber die Angst, die Kontrolle zu verlieren, und die ständige Unterdrückung von Gefühlen führen letztlich zur Katastrophe. Hofmeester hat Sexualität immer nur als Mittel der Erniedrigung erfahren, Humanismus ist für ihn nichts als eine Krankheit. Und wenn der Schein mehr zählt als das Sein - schließlich ist man nach Ansicht von Grünbergs Protagonisten in erster Linie das, was die anderen in einem sehen - was bleibt einem Menschen in einer solchen Situation? Tirzas Vater steht als beruflicher wie privater Versager vor einem Leben ohne Zukunft. Das lange unterdrückte "Tier" wird wach. In welcher Weise das geschieht, sei an dieser Stelle nicht verraten. Zum Schluss entwickelt sich Grünbergs "Tirza" fast zu einem Thriller mit unerwartetem Finale in Afrika.

Arnon Grünberg ist das hervorragende Porträt eines besitzergreifenden Vaters gelungen, aber gleichzeitig auch ein Porträt unserer Zeit, in der der Schein oftmals das Sein bestimmt. Dieser Jörgen Hofmeester lässt einen nicht los, brennt sich ins Gedächtnis ein. Ein glänzender Roman über menschliche Abgründe.

Autor: Arnon Grünberg wurde 1971 in Amsterdam geboren. Von der Schule als "asoziales Element" verwiesen, gründete er einen eigenen Verlag und landete 1997 mit "Blauer Montag" einen internationalen Erfolg. Weitere preisgekrönte Werke des Niederländers sind "Phantomschmerz" (2000) und "Der Vogel ist krank" (2003). Unter dem Pseudonym "Marek van der Jagt" veröffentlichte er zwei Romane, von denen "Amour fou" den "Aspekte Preis" gewann. Der vorliegende Roman "Tirza" erhielt den bedeutendsten Preis in Belgien, "De Gouden Uil". Grünberg lebt heute in New York.