Weltenbummler und Wunderkind
Lerke von Saalfeld
Der niederländische Autor Arnon Grünberg gilt für die einen als Wunderkind der niederländischen Literatur, für andere ist er ein Enfant terrible. Nun ist sein neuester Roman "Tirza" auch in deutscher Übersetzung erschienen. Neben dem Schreiben findet Grünberg trotzdem noch Zeit für sein liebsten Zeitvertreib: das Reisen - häufig auch in Kriegs- und Krisenregionen.
Der niederländische Autor Arnon Grünberg verblüffte bereits mit 23 Jahren die literarische Welt mit seinem Debütroman "Der blaue Montag", der inzwischen in über zwanzig Sprachen übersetzt wurde. Die einen feiern ihn als "Wunderkind der niederländischen Literatur", für andere ist er ein "Enfant terrible". Seit 1994 hat er 18 Romane veröffentlicht, auch einen Gedichtband, er schreibt Erzählungen und Essays und ist regelmäßiger Kolumnist für holländische Zeitungen.
Grünberg ist neugierig, seit Mitte der neunziger Jahre lebt er in New York, schreibt wie ein Besessener, und will wissen, was in der Welt passiert. Seit einigen Jahren faszinieren ihn auch die Kriegsschauplätze dieser Welt - von Afghanistan über den Irak, den Kosovo bis hin zum Gefangenenlager in Guantanamo. Nun ist sein neuester Roman "Tirza" auch in deutscher Übersetzung erschienen, aber man fragt sich, wie kommt ein so umtriebiger Weltbürger noch zum Schreiben von Romanen?
Wenn man reist, kann man viel Zeit benutzen zum Schreiben. Es ist nicht so, dass ich süchtig bin, aber auch wenn ich Ferien mache und nichts tue, man kann immer zwei/drei Stunden schreiben. Auch wenn man an einem neuen Roman arbeitet, tut es mir leid zu sagen, jetzt kann ich nicht schreiben, jetzt ist Sonntag, jetzt arbeite ich nicht an meinem neuen Roman. Ich will weiter arbeiten. Und warum ich seit 2006 zu gewissen Orten gehe, wo Krieg ist, hat damit zu tun, ich wollte mal für die Zeitungen, für die ich seit 1994 schreibe, über andere Sachen benachrichtigen und gewisse Sachen mal sehen. Es gibt Schriftsteller, die sagen, ich brauche nie aus meinem Zimmer zu kommen, es geschieht alles in meinem Kopf. Das respektiere ich, aber ich finde es angenehm und notwendig, um andere Sachen zu sehen.
Sie können überall schreiben?
In Afghanistan war es schwer. Da schreibe ich für die Zeitung. Aber ich finde, ein Hotelzimmer ist eher geeignet zu schreiben als im eigenen Haus. Im Haus gibt es Bücher, das Telefon geht, man sieht einen Nachbarn. Man denkt, ach, ich geh mal einen Kaffee holen. Im Hotelzimmer gibt es keine Ablenkung, wie eine Zelle.
Krieg, ein subtiler Krieg, findet auch im Roman "Tirza" statt, der zunächst so harmlos beginnt. Der Vater von Tirza, Hofmeester, steht in der Küche und bereitet das Essen für die Abitursfeier seiner Tochter vor. Grünberg, der in den Niederlanden als "Woody Allen von Amsterdam" gefeiert wurde, der als Meister der Komik und des frechen Tons sein Publikum begeisterte, schlägt jedoch einen neuen Ton an. Einst war Hofmeester ein erfolgreicher Lektor, wird aber entlassen, weiß nicht warum, und verbringt, um seine Arbeitslosigkeit nach außen zu vertuschen, seine nutzlos gewordenen Tage auf dem Flughafen von Amsterdam; seine Frau hat ihn und die beiden Töchter verlassen, kehrt zwar nach vielen Jahren zurück, aber nur, weil sie mit ihrem Liebesabenteuer gescheitert ist. Hofmeester, nimmt sie wieder auf, als ob nichts geschehen wäre, denn anders lässt sich der Alltag nicht ertragen. Die scheinbare Harmonie zwischen Vater und Tochter, Hofmeester und Tírza, der er seine ganze Liebe zukommen lässt, beginnt langsam zu zerbröseln:
Es ist eine sehr tragische Geschichte. Sicher ist da noch etwas Komik drin, aber eher ist es zum Heulen. Wenn man sich vorstellt, dass so ein Mann jeden Montag bis Freitag zum Flughafen geht, nicht weiß, was mit seinem Leben zu tun, dann ist alle Komik vorbei. Ich finde die Erwartung, dass es etwas zum Lachen gibt, die hat mich irgendwie gestört. Ich wollte auch zeigen, wie das eine zum anderen führt, wie ein kleines Unglück zum großen Unglück werden kann. Wie man das plötzlich nicht mehr abwenden kann.
Hofmeester spielt viele Rollen. Er ist der fürsorgliche Vater, war einst ein guter Lektor, glaubte, ein guter Ehemann zu sein. Nach außen ist er ein Biedermann, immer korrekt mit Hut und Aktentasche, wohnt in einer noblen Straße von Amsterdam. Aber wer ist er wirklich?
Wenn man so lange spielt wie er, ist leicht vergessen, was er wirklich ist. Man kann sich verlieren im Spiel, und das ist das, was mit ihm immer wieder geschieht. Er spielt mit Überzeugung und an einem gewissen Punkt gibt es für ihn nur noch das Spiel und nichts anderes mehr. Der wirkliche Hofmeester ist so unglücklich und so unvermögend, dass er das gar nicht zugeben kann. Er kann sich selbst nicht zugestehen, wer er wirklich ist.
Im Vordergrund dieses Romans steht Hofmeester, seine Hoffnungen, seine Enttäuschungen, seine Versuche, das Leben zu gestalten, um vor sich und der Umwelt zu bestehen. Und deshalb fragt man sich als Leser, warum hat der Autor den Roman nicht 'Hofmeester' überschrieben, sondern 'Tirza'?
Für Hofmeester steht Tirza im Zentrum. Wer er wirklich sein möchte, ist der Vater von Tirza. Er hat das Gefühl, dass vieles und mit gutem Grund in seinem Leben nicht gelungen ist, und er will gerade das zu einem guten Ende bringen. Daran hält er sich noch mehr fest als an allem anderen Sachen. Tirza ist für ihn das Zentrum seines Lebens. Er hat kein Publikum mehr, er hat keine Arbeit mehr, und seine Frau ist davon. Sein einziges Publikum ist Tirza.
Und diese Tirza beginnt, eigene Wege zu gehen. Nach dem Abitur möchte sie sich auf Weltreise nach Afrika begeben, zusammen mit einem Freund, den der Vater natürlich hassen muss. Da der Freund ein Araber ist, vermutet Hofmeester, er sei ein Terrorist, nicht Choukry, wie er wirklich heißt, sondern ein Gefolgsmann des Terroristen Mohammed Atta. Alle Warnungen des Vaters stoßen bei der Tochter auf taube Ohren. Das Paar reist ab - so wird es dem Leser suggeriert - und angekommen in Namibia hört der Vater nichts mehr von ihnen. Das Handy ist abgestellt, die beiden scheinen verschollen. Schließlich ist Hofmeester so irritiert, dass er nach Namibia reist, der ersten Station der Reise seiner Tochter, um Nachforschungen zu betreiben, wo sie abgeblieben ist. Auf merkwürdig verschlungenen Wegen schürzt sich der Roman immer mehr zu einer Katastrophe. Wirklichkeit und Wahn sind nicht mehr zu unterscheiden. Der Vater findet seine Tochter nicht - kann sie auch nicht finden - aber das erfährt der Leser erst ganz zum Ende der Geschichte. Und das soll nicht verraten werden, denn Arnon Grünberg liebt die unerhörten Begebenheiten, die seinem Stoff die abgründige Tiefe geben und schließlich aus dem gewöhnlichen Alltag in die totale Katastrophe führen.
Ich glaube, Tirza ist imstande, glücklich zu sein. Das ist der glücklichste Mensch der Familie. Aber im allgemeinen ist es immer interessanter, über unglückliche Menschen zu schreiben als über glückliche. Wenn es nicht schief geht, würde es mich persönlich nicht so glücklich machen. Auch mit einem Happy-Ending ist es so. Wenn ich ein Buch lese mit einem Happy-Ending, habe ich immer das Gefühl, dass mein eigenes Leben Scheiße ist.
Und deshalb, folgerichtig, darf auch Tirza nicht glücklich werden in diesem überraschungsreichen, mehr tragischen als komischen neuen Roman von Arnon Grünberg.